Lindenfels. Der hessische Innenminister Hanns-Heinz Bielefeld (FDP) hatte dem Bergsträßer Landrat Dr. Ekkehard Lommel (SPD) schon im November 1970 geschrieben, dass Lindenfels als Mittelpunkt einer Gemeindegruppe mit Winkel, Schlierbach, Eulsbach, Seidenbuch, Glattbach, Kolmbach und Winterkasten in Frage komme. Fast alle der genannten Gemeinden folgten dieser Idee freiwillig.
Nur Seidenbuch wollte partout nicht nach Lindenfels, sondern zum größeren und reicheren Heppenheim. Ganz Seidenbuch? Wohl nicht. Denn Anfang 1972 organisierten Einwohner eine Unterschriftensammlung gegen das Votum der Gemeindevertretung, die den Anschluss an die Kreisstadt Heppenheim beschlossen hatte.
Die Kommunalpolitiker waren sich schon früh mit ihren Heppenheimer Kollegen einig geworden und hatten sogar schon einen Grenzänderungsvertrag unterschrieben. Doch das letzte Wort hat in solchen Fragen der Innenminister. Und der sah Seidenbuch stets bei Lindenfels.
Ein Feldweg als Direktverbindung
Der Seidenbucher Gemeinderat hatte eher die Größe und finanzielle Stärke der Kreisstadt im Auge, deren Nähe zum Ballungsgebiet Rhein-Neckar und die bessere Verkehrsanbindung. Durch einen Geländetausch mit Fürth sollte der direkte Anschluss von Seidenbuch an Heppenheim hergestellt werden.
Zeitgenossen berichten vom Herrichten eines Feldweges zwischen Ober-Schannenbach und Seidenbuch „bei Nacht und Nebel“. Im städtischen Archiv von Lindenfels findet sich ein reger Schriftverkehr in den Monaten April und Mai 1971 zwischen dem Bürgermeistern Wilhelm Metzendorf (Heppenheim) und Werner Kiltz (Seidenbuch). Durch die Verlängerung der von Ober-Hambach nach Schannenbach führenden Forststraße bis zur Kreisstraße nach Seidenbuch sollte eine durchgehende Straßenverbindung dargestellt werden.
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Dokumentiert ist auch ein Weihnachtsbrief des früheren Lindenfelser Bürgermeisters Wolfgang Schwabe an die Seidenbucher aus dem Jahr 1971. Schwabe war Kreistagsvorsitzender und Mitglied des Bundestages sowie des Europäischen Parlaments. Er sprach konkret die „Sportfreunde“ an und bezog sich auf eine damals schon „lange Jahre zurückliegende ‚Fußballschlacht‘“ zwischen dem SV Lindenfels und der SG Seidenbuch und „alten Gegensätzen“, die überbrückt werden müssten.
Auch Neunkirchen im Blick
Es ging wohl um mehr als nur um Sachargumente. Die rot-gelbe Landesregierung stellte die Stärke von Lindenfels als prosperierendem Fremdenverkehrsort heraus, der mit dem Anschluss von Seidenbuch zum Wohle beider Kommunen weiter gestärkt werden sollte. Lindenfels schielte sogar in Richtung Neunkirchen und plädierte für den Anschluss des „Wintersportortes“, um sein Angebot abzurunden.
Einige der Argumente des Lindenfelser Magistrats wecken heute wehmütige Erinnerungen: Sie verweisen unter anderem auf die regelmäßige Busverbindung durch die „Blaue Linie“ von Lindenfels nach Darmstadt und auf das Luisenkrankenhaus als Zentrum der Gesundheitsversorgung. Hotel Odenwald, Hessisches Haus, Hotel Viktoria, Hotel Harfe, Darmstädter Hof – Lindenfels konnte Ende der 60er-Jahre klangvolle Namen präsentieren.
Das „Arbeitsmanuskript Seidenbuch“, 1971 erstellt von dem in Kolmbach wohnhaften Hanns Wagner für eine Reportage des Hessischen Rundfunks, lässt ein wenig in die Seidenbucher Seele blicken. Wagner beschreibt, wie sich die Seidenbucher in der Vergangenheit stets am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen wussten und nach dem Krieg eine stattliche Infrastruktur geschaffen hatten, mit Wasserversorgung, einem Sportplatz und einem Abwasserkanal samt Kläranlage.
Noch im Juni 1972 versuchte die Gemeinde, die zwangsweise Angliederung an Lindenfels durch eine Eingabe beim Bundesverfassungsgericht zu verhindern. Die Karlsruher Richter jedoch ließen sich von den Argumenten nicht beeindrucken und verweigerten die Annahme der Verfassungsbeschwerde. Am 1. August 1972 wurde Seidenbuch zu einem Stadtteil von Lindenfels.
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