Flüchtlinge

Eine Klinik für zerstörte Leben in Lindenfels

Es sind vorwiegend Frauen und ihre Kinder, die in ihrer Not Zuflucht in Lindenfels gefunden haben. Aber auch alte Menschen haben ihr Hab und Gut gepackt und die Ruinen ihrer Heimat mit schweren Gedanken hinter sich gelassen.

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Stephan Alfter
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Im Luisenkrankenhaus in Lindenfels leben aktuell Flüchtlinge. © Thomas Neu

Lindenfels. Gekämpft, gehofft und doch verloren - als das Lindenfelser Luisenkrankenhaus seinen Status als Gesundheitseinrichtung verliert, denkt noch niemand an einen Angriffskrieg Russlands im Osten Europas. Mitarbeiter trauern im Juli 2016 „nur“ um die Schließung des Hauses, nachdem es zuvor monatelange Initiativen zum Erhalt der Klinik gegeben hatte. Fast sieben Jahre sind seither vergangen - und doch passt das Transparent, das Mitarbeiter damals vorübergehend an der Fassade aufhängen, auch zur traurigen Situation im Februar 2023.

Gekämpft, gehofft und doch verloren - Worte, die nachhallen, wenn man sie auf die 365 Menschen aus der Ukraine bezieht, die in dem Gebäude schon jetzt länger die Zimmerdecke anglotzen mussten als jeder Klinikpatient in den vorangegangenen Jahrzehnten. Vergeudete Zeit. Seit Monaten warten sie in Lindenfels auf einen neuen Sinn in ihrem Leben.

In der Klinik in Lindenfels haben Familien jeweils ein Zimmer mit biszu vier Betten. Die Menschen ausder Ukraine zeigen sich im Gesprächsehr dankbar. © Lindenfels_Luisenkrankenhaus_Gef

Den bisherigen hat ihnen der russische Präsident Wladimir Putin vor einem Jahr über Nacht genommen. Auch in dieser Woche wurde der Kremlchef nicht müde zu behaupten, es müsse diese Spezialoperation zur Entnazifizierung der Ukraine unbedingt geben. Tatsächlich geht es dem Autokraten in diesem Abnutzungskrieg um Ideologie, Macht und Boden.

Maryna Stozhka ist 46 Jahre alt und stammt aus Saporischja. Sie ist kein Nazi - aber dennoch Opfer dieser angeblichen Spezialoperation. Seit man weiß, dass sich im Schatten des Atomkraftwerks ihrer Heimatstadt nach einem Raketentreffer eine nukleare Katastrophe anbahnen könnte, kennt die ganze Welt den Namen der südukrainischen Metropole. Die Zahnarztassistentin, die in einer führenden Klinik beschäftigt war, hat ihre Heimat im Juni 2022 aus Angst vor dem Tod verlassen.

2373 Kilometer bis nach Hause

Sie ist sich im Klaren, dass ihr Leben nie wieder so wie vor dem Krieg sein wird. „Ich habe schon versucht, Arbeit bei einem deutschen Zahnarzt zu finden“, übersetzt eine Dolmetscherin. Aber die Mediziner in der Umgebung wollten eher junge Helferinnen. Sie werde es also weiter probieren, sagt Stozhka, die sich im Luisenkrankenhaus auch um die kleine Tochter ihrer Schwester kümmert. Die 46-Jährige möchte jetzt endlich mit einem Deutschkurs beginnen. Ihre eigene Tochter studiert seit einigen Semestern in Braunschweig.

In die Ukraine möchte sie nicht mehr zurückkehren. „Ich fühle mich hier sicher“, sagt sie. Stozhka kann sich sogar vorstellen, über eine längere Zeit in der Gemeinschaftsunterkunft zu bleiben. Ganz anders als die 44-jährige Iryna Slabunova.

Es sind vorwiegend Frauen und ihre Kinder, die in ihrer Not Zuflucht in Lindenfels gefunden haben. Aber auch alte Menschen haben ihr verbliebenes Hab und Gut in Autos gepackt und die Ruinen ihrer Heimat mit schweren Gedanken hinter sich gelassen. 28 Stunden Fahrt zeigt das Navi von Saporischja hierher. 2373 Kilometer bis zu einem Bett in Lindenfels, aus dem man niemand wegen eines quälenden Raketenalarms hochschrecken muss.

Lokales

Ukrainerin Iryna Slabunova flüchtete vor dem Krieg - und lebt nun in einer ehemaligen Klinik

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Der große Klinikkomplex mit dem bröckelnden Charme wirkt vor der Kulisse des Ortes inzwischen fast schmuddelig. Der Kreis hat den Bau von einem Investor gepachtet. Die „Perle des Odenwalds“ nannte man Lindenfels einst. Diese Zeiten sind sichtbar vorüber - zumindest was die Fassade der Immobilie betrifft.

Überdies lädt der holprige Bodenbelag lädt zu Stürzen ein. Trotzdem ist alles besser, anders, menschenwürdiger, geordneter und friedlicher als in der 18 Kilometer entfernten Zeltstadt in Bensheim, wo sich Menschen aus dem arabischen Raum mit deutlich schlechteren Verhältnissen und völliger Perspektivlosigkeit abfinden müssen.

Der Kreisbeigeordnete Matthias Schimpf (Die Grünen) sagt, man habe die unterschiedlichen Gruppen von Geflüchteten bewusst getrennt untergebracht, denn im Gegensatz zu den Menschen aus Drittstaaten, haben Ukrainer eine Arbeitserlaubnis, bekommen eine Krankenversicherung und Bürgergeld zur Unterstützung. Neid unter Geflüchteten - auch das gibt es.

Maryna Stozhka ist aus Saporischja geflüchtet. In der Klinik fühlt sie sich sicher.In ihre Heimat will sie nicht mehrzurück. Sie sucht einen Job. © Lindenfels_Luisenkrankenhaus_Gef

Indes: Raum und Flächen sind so oder so rar gesät im Kreis Bergstraße. Und der Bedarf daran ist groß seit Menschen vor allen möglichen Krisen nach Deutschland fliehen. Das zeigt auch ein Blick auf die Statistik: „Über die Meldebehörden sind aktuell 2872 ukrainische Flüchtlinge gemeldet“, teilt Matthias Schimpf mit. 4000 Menschen hat der Kreis im Jahr 2022 insgesamt aufgenommen. Doppelt so viele wie im Jahr 2015. Das war das Jahr, in dem die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zu dem geschichtsträchtigen Satz „Wir schaffen das“ genötigt wurde. Von den 4000 Geflüchteten seien 1 235 Ukrainer in Gemeinschaftsunterkünften und Privatwohnungen untergebracht. Die Übrigen haben auf anderem Wege ein Dach über dem Kopf gefunden.

„Nichts zu essen, keine Toilette“

Ein Dach über dem Kopf - dafür ist Iryna Slabunova aus Charkiw im Nordosten der Ukraine nach Deutschland gekommen. Als Putin Raketen schickte, verbrachte sie einen Monat im Bunker, ehe ehrenamtliche Kräfte ihr zur Flucht verhalfen. Ihr 27-jähriger Sohn blieb dort. Die 44-Jährige belegt ein „Doppelzimmer“ mit ihrer 18-jährigen Tochter Albina, die gerade auf ihrem Handy Nachrichten aus ihrer Heimat liest.

Matthias Schimpf, Beigeordneterim Kreis Bergstraße, ist bei der Verwaltung für die Unterkunft verantwortlich. Er sagt: „Wir sindam Limit.“ © Lindenfels_Luisenkrankenhaus_Gef

Ihre Mutter sagt: „Mein Haus ist kaputt, wir hatten einen Monat kaum etwas zu Essen und keine Toilette.“ Trotzdem möchte sie zurück in ihre Stadt, zu ihrem Sohn, zu ihrer Mutter. Die Sorgen der vergangenen zwölf Monate - man sieht sie ihr an. Slabunova hat trotz allem schon ganz gut deutsch gelernt in den Wochen des Wartens auf bessere Nachrichten. Sie macht sich nützlich und putzt in der Unterkunft, die mehr als 200 Zimmer hat.

Man achtet aufeinander

Überhaupt wird deutlich, wie diszipliniert die Geflüchteten aus der Ukraine hier zusammenleben. Es fällt kaum auf, dass hier 365 Menschen unter einem Dach versammelt sind. Man achtet aufeinander in dieser Klinik für Menschen, deren Leben von einem einzigen Mann aus dem angeblichen russischen Brudervolk zerstört worden ist.

Einen Essenslieferanten braucht der Kreis in Lindenfels im Gegensatz zu Bensheim nicht einzukaufen. Wer hier lebt, kocht selbst an einem der eilig herbeigeschafften Herde. Während in der Zeltstadt in Bensheim viel Krakeel herrscht, wird auf den Gängen des Ex-Krankenhauses eher leise gesprochen, um Rücksicht auf andere Geflüchtete zu nehmen. Matthias Schimpf wird nicht müde zu betonen, dass Unterkünfte unterschiedlicher nicht sein könnten als eben jene in Bensheim und in Lindenfels. Dass die Ukrainer uns kulturell vielleicht tatsächlich näher sind - hier wird es offensichtlich.

Klassenzimmer für die Kinder

Kulturelle Nähe hin oder her - wie mehrfach beschrieben, proben Landrat Christian Engelhardt (CDU) und sein Beigeordneter Schimpf einen Spagat. Einerseits hegen sie den Wunsch, Menschen hier zu integrieren, andererseits sagen sie, dass die schiere Anzahl an Menschen dies verhindere.

Zu den schönen Dingen in Lindenfels zählt in diesem Zusammenhang das Klassenzimmer, das für die ukrainischen Kinder eingerichtet worden ist. Schimpf steht vor einer Wand, die verziert ist mit Gemälden der Schüler. Sie zeigen Flaggen der Ukraine und Deutschlands. Ein Werk, das ins Auge fällt, lässt die jeweiligen Landesfarben sanft ineinander fließen. Es steckt viel kindliche Dankbarkeit in diesem Werk.

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Dankbarkeit, die Yevken Ostras offen ausdrückt. Der 31-jährige Familienvater sieht die Zukunft für seine Familie zunächst hier. Vielleicht gehe er zurück, wenn man ihn zum Wiederaufbau des Landes brauche, sagt er. Ostras hat seine Frau Maryna Odynoka und die dreijährige Tochter Kyra im Dezember aus der von den Russen beanspruchten Stadt Donezk weggebracht und ist erst wenige Wochen in Lindenfels.

Gemeinsam mit seinem Vater bewohnt die Familie ein Zimmer zu viert. Der Bergbauingenieur und die 29-jährige Grundschullehrerin wollen in Deutschland arbeiten gehen. Seit 2015 haben sie erlebt, wie sich die Situation in ihrer Region verschlechtert hat. Jeden Tag haben sie (mit sich) gekämpft, gehofft - und nun doch ihre Heimat verloren.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar

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