Heppenheim. Hansjörg Holzamer ging als Leichtathletik-Trainer ungewöhnliche Wege. Ein Beispiel:
Florian Schwarthoff kam in den 1980er Jahren als junger, talentierter Weitspringer nach Heppenheim, um sich unter die Fittiche des renommierten Coaches zu begeben. Die Bestweite des damals 16-jährigen Teenagers aus Erlangen lag zu dieser Zeit bei 7,22 Meter. Holzamer, seit dem Olympia-Silber 1972 für seinen Schützling Hans Baumgartner ein Weitsprungtrainer mit Weltruf, sollte den mit 2,01 Meter hochgewachsenen Schwarthoff zu größeren Weiten bringen.
Hansjörg Holzamer
Hansjörg Holzamer stammte aus einer Lehrer- und Schriftstellerfamilie.
Sein Großvater Wilhelm Holzamer (1870-1907) absolvierte seine Lehrerausbildung in Bensheim und unterrichtete zeitweise an einer Heppenheimer Schule.
Wilhelm Holzamer hatte enge Verbindungen zur Jugendstilszene nach Darmstadt, war Schriftsteller und angesehener Literaturkritiker der Frankfurter Zeitung.
Hans Detlev Holzamer, der Vater von Hansjörg Holzamer, wurde 1901 geboren und galt seit 1945 im Krieg vermisst.
Hans Detlev Holzamer war ebenfalls Lehrer in Heppenheim und Dialektschriftsteller. Er veröffentlichte 1942 „Das bunte Buch der Bergstraße“, ein reich illustrierter Reisebegleiter durch die Städte und Orte der Bergstraße.
Hansjörg Holzamer schrieb 1968 das Romanfragment „Jakes Traum: Der Tod des Nichtschwimmers.“ Das Buch behandelt den problematischen Schulalltag eines Jugendlichen.
„Der Flug der Libelle“, ein Kriminal- und Heimatroman von Hansjörg Holzamer mit historischen Bezügen vor allem zum 30-jährigen Krieg, erschien 2005. Am zweiten Teil von „Der Flug der Libelle“ arbeitete Holzamer bis zu seinem Tod.
Hansjörg Holzamer starb im Alter von 80 Jahren überraschend am 28. April 2019 in Heppenheim und wurde in seiner Heimatstadt begraben. eh
Doch der Trainer aus Heppenheim hatte andere Pläne. Er studierte eingehend die Bewegungen des jungen Sportlers und erkannte in ihm einen Hürdenläufer. Seine Erkenntnis behielt Holzamer zunächst für sich. Während Schwarthoff glaubte, weiterhin für den Sprung in die Weitsprunggrube zu üben, waren die Trainingsinhalte längst auf 110-Meter-Hürden umgestellt. Diese Geschichte hat Hansjörg Holzamer einst im Gespräch mit dieser Zeitung bestätigt.
Das Ergebnis ist bekannt: Holzamer entwickelte eine speziell auf die Körpergröße des Athleten zugeschnittene Hürdentechnik, Schwarthoff holte bei den Olympischen Spielen in Atlanta 1996 die Bronzemedaille. Seine schnellste Zeit über diese Strecke erreichte er 1995 in Bremen. Die damals gelaufenen 13,05 Sekunden sind nach wie vor deutscher Rekord.
„Hansjörg hatte einen unglaublichen Blick für Bewegungsabläufe“, erinnert sich Hans Baumgartner an die außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Trainers. Ausgestattet mit einem fotografischen Gedächtnis für Bewegungen sei es ihm möglich gewesen, jede Mini-Sequenz eines Weitsprunges von Anlauf und Absprung über Flugphase bis zur Landung zu sezieren – Analysen, die heute mit Unterstützung von Highend-Kameras und speziellen Computerprogrammen vorgenommen werden.
Hansjörg Holzamer wurde am 9. Februar 1939 in Heppenheim geboren. Nach dem Abitur am Starkenburg-Gymnasium 1959 studierte er an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt (Soziologie, Geschichte, Deutsch und Bewegungslehre) und wurde anschließend Lehrer. Als Oberstudienrat unterrichtete er an der Lichtenbergschule in Darmstadt die Fächer Geschichte, Deutsch, Gemeinschaftskunde und Ethik. Zudem war er viele Jahre der für ganz Darmstadt zuständige Vertrauenslehrer. Von 1961 bis 1968 war er Vorsitzender des Stadtjugendringes Heppenheim.
Holzamer war im Alter von 15 Jahren Mitgründer der Leichtathletikabteilung des TV Heppenheim und deren erster Abteilungsleiter. Seine eigenen sportlichen Erfolge, über die er ungern Auskunft erteilte, erzielte er als Mehrkämpfer bei Gau- und Landesmeisterschaften. Insgesamt 65 Jahre engagierte er sich in unterschiedlichen Funktionen innerhalb der Leichtathletikabteilung des TVH.
Über die Grenzen Heppenheims bekannt wurde Hansjörg Holzamer zunächst als Trainer von Hans Baumgartner, der 1967 vom baden-württembergischen Waldshut nach Heppenheim und zum TV übersiedelte. Unter Anleitung von Holzamer gewann Baumgartner (Jahrgang 1949) Titel bei Deutschen sowie Europa-Meisterschaften und mit der persönlichen Bestleistung von 8,18 Meter die Silbermedaille bei der Olympiade 1972 in München. „Hansjörg war ein Visionär und seiner Zeit voraus“, beschreibt Baumgartner die Trainingsmethodik seines Mentors. In den Hochzeiten verbrachten Trainer und Athlet bis zu drei Stunden täglich auf dem Trainingsplatz, dazu kamen an den Wochenenden die Wettkämpfe im In- und Ausland. „Ohne Hansjörg wäre ich heute nicht dort, wo ich bin“, berichtet Baumgartner von einer tiefen Verbindung zu seinem Trainer, die weit über den Sport hinaus ging und bis zu Holzamers Tod im April 2019 fortbestand. Hans Baumgartner hielt die Trauerrede bei Hansjörg Holzamers Beerdigung.
Ein Trainer fürs Leben
Holzamer, ein Liebhaber von Kunst, Musik, Literatur und selbst Schriftsteller, habe seine Leichtathleten dazu animiert, sich weiterzubilden, zu lesen, sich politisch zu interessieren und überdies stets die Bedeutung einer beruflichen Ausbildung unterstrichen. „Er hat uns neue Horizonte eröffnet.“ Holzamer sei nicht nur ein Trainer für Leichtathletik, sondern in gewisser Weise auch ein Trainer fürs Leben gewesen.
Baumgartners eigene berufliche Laufbahn wurde wesentlich von Holzamer beeinflusst. Nach einer handwerklichen Ausbildung absolvierte er auch auf Einwirken seines Trainers hin ein Studium in Darmstadt und betreibt seit vielen Jahren ein eigenes Ingenieurbüro in Mörlenbach.
Als Hans Baumgartner 1967 nach Heppenheim kam, stand er einem akkurat frisierten, Anzug tragenden Hansjörg Holzamer gegenüber. In Erinnerung hat man eher das sympathisch-kauzige Erscheinungsbild des Trainers: längeres Haar, Vollbart, legere Kleidung. Das neue, nonkonforme Lebensgefühl der 68er-Generation habe Auswirkungen auf Holzamers Persönlichkeit und Ansichten gehabt, schildert Baumgartner im Rückblick seinen Eindruck aus jener Zeit. Diese Veränderungen hätten sich in seinem lockeren Äußeren niedergeschlagen. „Ich denke, das war Ausdruck seiner Persönlichkeit.“
Ein Freigeist, kein Diplomat
Baumgartner beschreibt Hansjörg Holzamer als Freigeist, der gnadenlos ehrlich und geradeaus gewesen und keinem Konflikt aus dem Weg gegangen sei. „Ein Diplomat war er nicht.“ Bisweilen wäre etwas mehr Verhandlungsgeschick und Zurückhaltung an der einen oder anderen Stelle hilfreich gewesen. „Damit hätte er in manchmal sicher mehr erreichen können.“
35 internationale Medaillen
Hansjörg, auch „Jake“ genannt, Holzamer gewann mit seinen Sportlern bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen insgesamt 35 internationale Medaillen. Acht Athleten führte er zu Olympischen Spielen. Von 1984 bis 1995 war er Weitsprung-Bundestrainer. Einen besonderen Coup landete er mit der 4x100 Meter-Staffel des TV Heppenheim bei den Deutschen Meisterschaften 1994 in Erfurt. Mit Florian Schwarthoff, dem Zehnkämpfer Thorsten Dauth sowie den Weitspringern Christian Thomas und Alexander Bub schickte er ein Team ohne echten Sprint-Spezialisten ins Rennen – die TVH-Equipe holte den Titel.
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