Bensheim. Wer nicht in der Nähe wohnt oder hier zu tun hat, den wird sein Weg nicht oft durch die Blücherstraße in Auerbach führen. Doch fällt dort ein ungewöhnliches Haus ins Auge, das mit seiner einfachen und doch dekorativen Backsteinverzierung und seinen gerundeten Dachflächen in unserer Region kaum seinesgleichen hat.
Aufgrund der an ein umgedrehtes Boot erinnernden Form und dem verwendeten Material mag man an norddeutsche Vorbilder denken. Tatsächlich finden sich in Kiel eine Reihe von ähnlichen Häusern - die aber auch dort keine traditionelle Bauform repräsentieren.
Im Gegenteil, die mit dem Fachbegriff Spitztonnendach genannte, unter dem Namen ihres Erfinders auch als Zollingerdach geführte Bauweise entsprang der Suche nach innovativen Bauformen in den 1920er Jahren. Ebenso wie die noch heute bekannte und gern nachgeahmte Architektur des Bauhauses war das Zollingerdach ein Ergebnis der Suche nach kostengünstigen Möglichkeiten Wohnraum zu schaffen.
Wohnungsnot im Kaiserreich
Schon im Kaiserreich hatte man angesichts massenhafter Wohnungsnot die Notwendigkeit eines staatlichen Eingreifens in die Wohnungsbautätigkeit erkannt. Nach jahrelangem Ringen kam in den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges ein entsprechendes Gesetz zustande, das auch die Tapferkeit der kämpfenden Soldaten mit dem Versprechen einer menschenwürdigen Wohnung stärken sollte.
Gemeinnützige Baugesellschaften sollten finanziell gefördert werden und die Großstädte wurden zur Errichtung von Wohnungsämtern verpflichtet. Während der Nachkriegsinflation mussten dann viele Wohnungsbauunternehmen aufgeben, dafür wurden Wohnungsfürsorgegesellschaften gegründet, die auch auf eine qualitative Verbesserung der Neubauten hinwirken sollten.
Es galt gleichzeitig, die Baukosten durch Großeinkauf und Massenherstellung zu senken und allgemein die Typisierung und Normierung voranzutreiben, die Betreuung der Bauprojekte zu übernehmen und die Finanzierung sicherzustellen.
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Ein Großteil der neuen Bauaufgaben wurde im Siedlungsbau gesehen, wie sie etwa in Frankfurt durch die von Stadtbaurat Ernst May initiierten, vom Neuen Bauen geprägten Siedlungen noch heute repräsentieren. Aber auch einzelne Wohnbauten wurden gefördert - und zu diesen gehörte das hier betrachtete Haus in der Blücherstraße, für das der Postassistent Lorenz Oberhofer im Juli 1926 einen Antrag auf ein Baudarlehen bei der Wohnungsfürsorge-Gesellschaft für Hessen gestellt hatte. Im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt erhaltene Akten dokumentieren sowohl die genehmigten Pläne als auch die geleisteten Zahlungen und den Baufortschritt und die Fertigstellung des Baus im Herbst 1927.
Der Architekt war Karl Wilhelm Kohl, geboren 1896 in Goddelau und damals Geschäftsführer bei der Wohnungsfürsorge-Gesellschaft für Hessen, der auch für die Pläne vieler weiterer Häuser in Südhessen verantwortlich war, etwa in Arheilgen, Bürstadt oder Büdesheim.
Nur zwei weitere Häuser mit Spitztonnendach
Aber auch in Bensheim gibt es noch mindestens zwei weitere von ihm geplante Häuser: in Auerbach in der Weinbergstraße und in Fehlheim. Bei diesen und fast allen anderen hat er ein traditionelles Sattel- oder Walmdach geplant. Nur im pfälzischen Dudenhofen gibt es zwei weitere Häuser, die Kohl 1926/27 mit Spitztonnendach, also „Zollingerdach“, entworfen hatte.
Er experimentierte wohl damals mit dieser Dachform, ohne diesen Weg weiter zu verfolgen. In späteren Entwürfen setzt er wieder auf traditionelle Dachformen. Immerhin war das Zollingerdach eine ganz neue, erst 1923 patentierte Konstruktion. Entwickelt worden war sie von Friedrich Zollinger. 1880 in Wiesbaden geboren, hatte dieser an der Technischen Hochschule Darmstadt Architektur und Städtebau studiert. Sein Dach ist eine Holzkonstruktion aus vielen, gleichartigen Holzelementen, die zu Rauten zusammengesetzt und miteinander verschraubt werden.
Der Zusammenbau erfordert keine Fachkenntnisse und die Teile kommen vorfabriziert auf die Baustelle. Die Wölbung schafft viel lichten Raum, ohne dass Stützen benötigt werden. Außerdem sinkt der Holzbedarf insgesamt erheblich und es werden, anders als im traditionellen Dachbau, keine langen Bohlen benötigt.
Mit der Errichtung dieses neuartigen Daches war man in Auerbach ganz vorn in Bezug auf architektonische Innovationen.
Auch der Frankfurter Pionier des Neuen Bauens Ernst May hatte sich übrigens vor seiner Hinwendung zum Stil der Neuen Sachlichkeit schon mit dem Zollingerdach beschäftigt und es für eine seiner ersten experimentellen Wohnsiedlungen gleich mehrfach eingesetzt, nämlich für die zwischen 1919 und 1924 entworfene Siedlung in Breslau-Oltaschin. Auch May verwendete die Dachform später nicht mehr, sondern er setzte wie bekannt auf eine avantgardistischere Formsprache.
Siedlung in Michelstadt
In Michelstadt gibt es eine kleine Siedlung, die in den 1920er Jahren für die minderbemittelte Bevölkerung in Michelstadt entstand. In der dortigen Waldstraße stehen noch heute Häuser, die ebenfalls ein Zollingerdach haben, aber nicht von Wilhelm Kohl geplant wurden. Die in Michelstadt „Zeppelinhäuser“ genannten Bauten mit verschindeltem Fachwerk wurden 1923/1924 errichtet und schließen an ländliche Bauformen an.
Ob das Haus in der Auerbacher Blücherstraße eher dem Heimatschutzstil oder dem architektonischen Expressionismus zugerechnet werden kann, ist eine vielleicht müßige Überlegung. Sein Architekt Karl Wilhelm Kohl jedenfalls war zur Bauzeit schon ein überzeugter Nationalsozialist: 1922 in die SA eingetreten und in den Folgejahren mehrfach befördert, war er seit 1923 Mitglied der NSDAP.
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