Zeugnis hochfliegender Pläne am Bensheimer Ritterplatz

Von 
Eva Bambach
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Wohl nur kurz vor dem Abriss des alten Gasthauses 1898 entstand dieses Foto. Die Ansichtskarte ist heute im Stadtarchiv zu finden. © Thomas Neu

Am Ritterplatz ragt ein merkwürdiger Gebäudekomplex in die Höhe, der sich als ein Fragment gebliebenes Zeugnis hochfliegender Pläne interpretieren lässt. Gegenüber von Stadtpark und Rodensteiner Hof wirkt das ab 1898 errichtete Gebäude nicht wie die typische Bebauung einer Kleinstadt, als die man Bensheim mit seinen um die Wende zum 20. Jahrhundert knapp 10 000 Einwohnern noch beschreiben muss.

Denn mit solchen mehrgeschossigen Häuserfluchten wurden am Ende des 19. Jahrhunderts in den größeren Städten ganze Stadtviertel neu geschaffen, um dem durch steigenden Wohlstand und Zunahme der Industrie bedingten Zuzug von Bürgern gerecht zu werden.

Die hohen Gründerzeithäuser sprengten zunächst auch dort typischerweise den Maßstab der umgebenden Bauten. Am Ritterplatz ist das noch sehr gut zu beobachten, weil die Bautätigkeit nicht fortgeführt wurde: Südlich schmiegt sich geradezu schutzsuchend ein sehr viel kleineres älteres Haus an die fensterlose hohe Wand des Neubaus. Da Fenster fehlen, muss der Bauherr mit einer Fortsetzung der Neubebauung als geschlossene Straßenfront nach Norden und Süden gerechnet haben.

Dann wäre hier vielleicht zusammen mit der gleichzeitig bebauten Wilhelmstraße ein Gründerzeitviertel entstanden, das wie in den großen Städten um den historischen Stadtkern herum gelagert gewesen wäre, mit der heutigen B3 als einer Art gleichförmig bebauter Ringstraße (die schon ab 1817 als Umgehungsstraße außerhalb der Stadtmauern angelegt worden war).

Menschliche Skelette gefunden

Obwohl es zu dem im Stil des Historismus gestalteten Haus eine gute Quelle gibt, schweigt diese sich über solche Pläne aus: Die Urkunde im Stadtarchiv zur Grundsteinlegung des Neubaus „Gasthaus Weißer Ross“ der Wergerschen Brauereigesellschaft Worms für den Pächter Emil Braun von 1898 besagt (mit aktualisierter Rechtschreibung):

„Am 22. Oktober des Jahres 1898 wurde der Grundstein zu diesem Hause gelegt. Dasselbe kommt an Stelle des alten zu stehen, welches wegen großer Altersschwäche in einem solchen baufälligen Zustande war, dass es abgebrochen werden musste. Bei diesem Abbruch speziell beim Ausgraben der Fundamente wurden mehrere menschliche Skelette zu Tage gefördert, die aus den Jahren 1813 stammen sollen. […] Ein Bild des alten weißen Rosses in welchem der berüchtigte Johann Bückler genannt „Schinderhannes“ zeitweilig sich aufhielt wird hier beigelegt; außerdem eine Flasche besten Kirchberger wie er am Abhang des Kirchberges an der gesegneten Bergstraße wächst.

Das weiße Ross in welchem Herr Emil Braun als Wirth seines Onkels waltet, ist Eigentum der Wergerchen Brauereigesellschaft in Worms, welche auch den stattlichen Neubau von 28 m Länge, 13,50 Tiefe u. 12,30 m. Höhe ausführen lässt […]. Sämtliche Handwerksmeister sind Einwohner Bensheims.

Deutlich den Maßstab der umgebenden Häuser übersteigt der 1898 errichtete dreigliedrige Bau am Ritterplatz, der in seiner Fassade der Kontur der Straße folgt und offenbar als Teil einer Reihenbebauung geplant war. © Eva Bambach

Mit den besten Wünschen für einen glücklichen Fortgang des Baus, mit den besten Wünschen, dass der Bau der Stadt Bensheim zur Zierde gereichen möge und mit den besten Segenswünschen, dass das Haus und der darin befindliche Betrieb seinen Eigentümern und seinen derzeitigen Einwohnern zum Nutzen gereichen möge, wird hiermit […] diese Urkunde eigenhändig unterschrieben und in wohlverlöteter Kapsel dem Grundstein einverleibt.“

Der Neubau war also als Gasthaus gedacht, enthielt zugleich aber mehrere Wohnungen. Er wurde in einer Atmosphäre des Aufschwungs geplant, die von der „Gründerzeit“ geprägt war: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch in Bensheim etliche neue Gewerbebetriebe gegründet und es waren nach Niederlegung der Stadtmauern neue Stadtviertel entstanden.

1869 schwärmte ein Artikel im Bergsträßer Anzeigeblatt: „Prächtige Alleen, bekieste Wege, breite reinliche Trottoire zieren die Straßen der Stadt.“ Es war eine Zeit des Aufschwungs. Statt für eine weiter forcierte Industrialisierung entschied man sich in Bensheim um die Wende zum 20. Jahrhundert aber – anders als zum Beispiel in Weinheim – bewusst für eine andere Entwicklung.

Villen- und Rentnerstadt

Mit der Einführung einer Hessischen Städteordnung im Jahr 1903 wurden die kommunalen Entscheidungsbefugnisse gestärkt und Bensheim stellte die Weichen, um eine Villen- und Rentnerstadt werden. Dazu diente unter anderem die Anlage von ausgedehnten Villenvierteln nach Plänen von Heinrich Metzendorf.

Nennenswerte Industrieansiedlungen wurden jedoch über Jahre verhindert, was man nach dem Ersten Weltkrieg bedauerte, als die Wirtschaftskraft der Privatiers gelitten hatte.

Das dreiteilige Mehrfamilienhaus am Ritterplatz mit Wohnraum bis unters Dach blieb jedenfalls Fragment. Aber noch immer prägt der historistische Bau das Straßenbild: ein dreigeschossiges verputztes Haus mit geschweiftem Giebel und einem zweigeschossigen Erker.

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Die leicht geknickt wirkende Kontur der Straßenfront wiederholt die Umrisse des Vorgängerbaus, des 1656 errichteten zweigeschossigen Gasthauses – an einem Ort, an dem es vor den Toren der Stadt wohl seit dem Mittelalter Gastwirtschaften gegeben hatte.

Die bei der Grundsteinlegung erwähnten Skelette übrigens hielt der ehemalige Stadtarchivar Richard Matthes in einem 1974 als Beilage des Bergsträßer Anzeigers erschienenen Artikel für fränkisch.

Wie auch immer, die am Bau beschäftigten Maurer gaben sie als Überreste des Schinderhannes aus, fertigten einen passenden „Grabstein“ an und verlangten zehn Pfennig für die Besichtigung, auch diese Geschichte berichtete Richard Matthes.

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