Bensheim. Zu Fuß unterwegs, trifft man nicht nur Menschen von heute: Allerorten warten auch (meist) steinerne Zeugen, um von vergangenen Zeiten zu erzählen.
Wer auf den Kirchberg steigt und den Blick über Bensheim schweifen lässt, wird schnell auf die im Vergleich zu den meisten Gebäuden im Stadtgebiet riesigen, rechteckigen Konstruktionen aufmerksam, die die Gebäude in den Gewerbegebieten kennzeichnen – und auf die Hochhäuser der 1970er Jahre. Erst danach fallen auch ältere einstmalige Großbauten auf. Unübersehbar immerhin noch sind die vier großen Türme der Stadtkirche St. Georg. Dann sieht man auch die beiden kleineren Kirchtürme der evangelischen Kirche St. Michael und der Friedhofskirche St. Crescens - traditionelle, an neugotischen und neuromanischen Formen orientierte Entwürfe.
Eine ganz andere Sprache spricht ein weiterer Kirchturm, den man im westlichen Stadtgebiet ausmachen kann. Es ist der Glockenturm von St. Laurentius, der nüchtern und funktional in die Höhe ragt und von Spöttern mit dem ebenso funktionalen, unweit gelegenen Schlauchturm der Bensheimer Freiwilligen Feuerwehr in der Robert-Bosch-Straße verglichen werden könnte – von dessen massiver Bauweise jedoch die luftige Konstruktion des Campanile der Kirche entschieden absticht.
Dass beide sich auf die Ferne aber doch so ähnlichsehen, ist kein Zufall. Die Kirchenneubauten nach dem Zweiten Weltkrieg strebten typischerweise funktionale, als zeitgemäß empfundene Bauformen an – eine Bewegung innerhalb der Kirchen, die ihren Anfang schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehabt hatte. Deutlich sichtbar wurde das aber vor allem bei der großen Zahl von Kirchenneubauten, die wegen der massiven Bevölkerungsverschiebungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts notwendig geworden waren. Auch in Bensheim.
Noch 1945 hatte das westliche Stadtgebiet Bensheims überwiegend aus Ackerland bestanden, mit nur wenigen kleineren Wohnvierteln. Die Neuansiedlung vieler Geflüchteter bedingte hier nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine rege Wohnbautätigkeit. Für die katholischen Neubürger der Stadt reichte die damals einzige katholische Pfarrgemeinde St. Georg nicht aus. Zunächst wurde der Bau eines eigenen Kindergartens in Angriff genommen: 1954 wurde er unter dem Namen St. Winfried eröffnet.
Architekt des auffallend nüchternen Kirchenbaus war Erwin van Aaken
1962 wurde dann St. Laurentius als eigene Pfarrgemeinde für das Gebiet westlich der Bahnlinie errichtet – inzwischen war die Zahl der dort lebenden Katholiken auf mehr als 3000 angestiegen. Im 1963 fertiggestellten Pfarrhaus und im Kindergarten wurden zunächst die Messen gefeiert. Im April 1963 begannen dann die Bauarbeiten für die Kirche, ein gutes Jahr später war Richtfest und im Juli 1964 war der Kirchturm, samt bekrönendem Kreuz und Turmuhr, jedoch noch ohne Glocken, fertig. Fast genau ein Jahr später konnte dann die Kirche selbst geweiht werden und fünf weitere Jahre danach, am Nikolaustag 1969, wurden dann auch die Glocken in Betrieb genommen.
Der Architekt des auffallend nüchternen Kirchenbaus war Erwin van Aaken (1904-2008), unter dessen Leitung in Deutschland mehr als 160 Kirchen entstanden. Er war Neffe und Mitarbeiter des Würzburger Architekten Albert Boßlet, Vertreter einer an traditionellen Vorbildern orientierten Heimatschutzarchitektur und Erbauer von allein bis zum Zweiten Weltkrieg fast 100 katholischen Kirchen in Deutschland.
Erwin van Aaken: Ein Vertreter des „neuen Kirchenbaus“
Erwin van Aken entwickelte vor allem nach Boßlets Tod 1957 einen eigenen stilistischen Ansatz, mit stark funktionalem, materialgerechtem und liturgisch ausgerichtetem Charakter. Er zielte auf klare räumliche Zuordnungen mit verzahnten und dennoch eigenständigen Baukörpern, sichtbaren Materialien wie Beton, Holz oder Glasbausteinen und die Verwendung von indirektem Licht und Oberlichtern zur Erzeugung einer spirituellen Atmosphäre. Auch der Kirchenbau von St. Laurentius entspricht mit seinem parabelförmigen Grundriss der Kirche, der rechteckigen Sakristei, der achteckigen Kapelle und dem freistehenden Glockenturm diesen Kriterien.
Als Vertreter des „neuen Kirchenbaus“ lobte der Architekt selbst sein Bauwerk in der Festschrift, die zur Einweihung der Kirche 1965 herausgegeben wurde. Er hob die (später umgestaltete) Altarinsel als geistige Mitte hervor, die der unmittelbaren Verbindung zu den Gläubigen entgegenkomme und insgesamt eine Gestaltung, die das Zusammenwachsen der Gemeinschaft fördere und „Gottesnähe“ vermitteln solle. Der freistehende Turm bilde eine Dominante für alle Straßen, ohne die Verkehrsverhältnisse zu beeinträchtigen, erklärte er.
Doch entwickelte sich der Glockenturm offenbar zum Sorgenkind, wie der Chronik der Pfarrgemeinde zu entnehmen ist: 1986 wurden erhebliche Schäden am Turm festgestellt, deren Behebung 80 000 DM kosten sollte. Zehn Jahre später wurden abermals Risse und freiliegende Eisen gefunden, die durch die Schwingungen der Glocken in einem unzureichenden Glockenstuhl verursacht worden waren. Es wurden deshalb drei kleinere Glocken angeschafft und mit einer verbliebenen alten Glocke abgestimmt. Drei Jahre später musste der Turm samt Turmuhr saniert werden.
Finanziert worden war der Kirchenbau in den 1960er Jahren durch das bischöfliche Ordinariat und Dank der Opferbereitschaft der vielen Gläubigen, wie unter anderem in der Gründungsurkunde betont wurde. Was damals ein vitales Bedürfnis war, scheint heute obsolet. Wie in ganz Deutschland ging die Zahl der Kirchenmitglieder auch in Bensheim zurück.
Inzwischen wird über alternative Verwendungsmöglichkeiten für den Kirchenraum nachgedacht - nicht nur im Fall von Sankt Laurentius, sondern unter anderem auch in der Auerbacher Gemeinde Heilig Kreuz. Die katholische Kirche St. Elisabeth in Schönberg wurde bereits profaniert. Auch diese Kirchenbauten wurden errichtet, um dem steigenden Bedarf durch den Zuzug vieler Menschen nach Bensheim gerecht zu werden.
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