Bensheim. All die hinterlassenen Spuren zeugen in erster Linie von der einstigen Sonnenseite des Lebens. Es sind überwiegend die solide und kunstvoll gebauten Häuser der Wohlhabenden, die wir noch heute bewundern. Vieles ist einfach deshalb verschwunden, weil es nicht haltbar genug war oder weil es nicht als erhaltenswürdig erschien. Die Spuren anderer Menschen, schlimmer noch – diese selbst - sind bewusst ausgelöscht worden: Der jüdische Teil der Gesellschaft wurde durch den Nationalsozialismus zur schmerzlichen Lücke - durch den millionenfachen Mord, aber auch durch die diesem vorangegangenen Jahre der Drohungen und der Gewalt.
In der letzten Folge von „Am Wegesrand“ ging es um die Gaststätte „Malepartus“, mit der es einer Familie nach dem Zweiten Weltkrieg gelang, eine neue Existenz aufzubauen. Nun geht es um eine Familie, die nur rund zehn Jahre zuvor weniger Glück hatte.
Stolpersteine, die 2022 auf Initiative von Schülerinnen und Schülern des Goethe-Gymnasiums in der Bahnhofstraße 29 verlegt wurden, erinnern an die jüdische Familie Wilhelm Adler. Zwei Töchtern samt Familie gelang in den 1930er Jahren die Übersiedlung in die USA. Doch die Eltern blieben in Bensheim zurück – in einer Atmosphäre der Unmenschlichkeit, der sie nichts entgegensetzen konnten.
Wilhelm Adler wollte 1875 "ein jüdisches Café" betreiben
Heute steht auf dem Grundstück Bahnhofstraße 29 ein Erweiterungsbau des Hotels Bacchus (eröffnet im Jahr 2012). Nur ein Torpfosten ist von dem ehemaligen Gebäude, das im Zuge des Ausbaus der Bahnhofstraße nach 1860 errichtet wurde, übriggeblieben. Er schließt an einen identischen Pfosten des Hauses Bahnhofstraße 27 an. Ein etwas unscharfes Foto aus dem Jahr 1980 im Bensheimer Stadtarchiv zeigt, dass man sich das einstige Gebäude ungefähr spiegelbildlich zu dem noch erhaltenen Nachbarhaus vorstellen muss, mit zwei parallel liegenden Einfahrten.
Im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt gibt es ein bewegendes Dokument: ein Gesuch von Wilhelm Adler, geboren 1875, datiert auf den 30. November 1933. Darin bittet er um die Erteilung einer Konzession für den Betrieb eines „jüdischen Cafés mit alkoholfreien Getränken“. Zuvor war er nicht als Gastwirt, sondern als Kaufmann tätig, allein die wirtschaftliche Not hatte ihn zu diesem neuen Plan gebracht. Sein eigenes Geschäft sei nicht mehr rentabel, erläuterte er in dem Gesuch - es liegt nahe, dass der Grund im Boykott der jüdischen Geschäfte zu suchen war. Auch dürfe er aufgrund der Boykottmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung leerstehende Räume im ersten Stock seines Hauses nicht vermieten, schrieb Wilhelm Adler. Die Idee eines Cafés, zumal in der Nähe des Bahnhofs, war naheliegend, zumal im Nachbarhaus Nr. 27 schon länger ein Café betrieben wurde – noch heute kann man Spuren des einstigen Eingangs an der Fassade ablesen.
Wilhelm Adler ertrug vier weitere Jahre Ausgrenzung und Verfolgung
„Meine wirtschaftliche Not ist ausserordentlich groß“, begründete Wilhelm Adler sein Gesuch. „Ohne die Erteilung einer Konzession müsste ich mit meiner Familie und der Familie meines Schwiegersohnes die öffentliche Unterstützung in Anspruch nehmen, denn auch mein Schwiegersohn ist leider gezwungen, sein Geschäft wegen Unrentabilität aufzugeben.“ „Das Bedürfnis zur Errichtung eines jüdischen Cafés für Bensheim und Umgebung ist dringend notwendig, …, die Rentabilität ist gesichert, wenn man berücksichtigt, dass alle jüdischen Familien das Café besuchen würden. Dabei darf ich betonen, dass für die übrigen Cafébesitzer keinerlei Nachteil durch die Eröffnung … entstehen wird, da ja zur Zeit die jüdischen Familien aus bekannten Gründen öffentliche Lokale im Allgemeinen nicht besuchen.“
Der Hoffnungsschimmer, der auch in der Formulierung „zur Zeit“ liegt, ging Wilhelm Adler wohl bald verloren. Rund vier Wochen nach der Einreichung des Gesuchs erhielt er den ablehnenden Bescheid: „Der Stadtrat von Bensheim hat in seiner Sitzung vom 19. ds. Mts. die Bedürfnisfrage für Errichtung eines Kaffees verneint“. Noch viereinhalb Jahre ertrug Wilhelm Adler Ausgrenzung und Verfolgung, bevor er sich am 25. Juli 1938 das Leben nahm.
Keine Reparaturen seit dem "politischen Umsturz"
Seine Witwe Karoline folgte ihren Töchtern und deren Familien in die USA, nachdem sie das Haus in der Bahnhofstraße, die damals Hindenburgstraße hieß, unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes für 18.000 Reichsmark an die Ehefrau eines nichtjüdischen Rechtsanwalts aus Weinheim „verkauft“ hatte, der in den Räumen dann eine Kanzlei eröffnete. Der Wert des Hauses dürfte viel größer gewesen sein – die im Stadtarchiv aufbewahrten Akten zur Wiedergutmachung verzeichnen 1950 einen Brandkassenwert von mehr als 20.000 DM. Historisch geht man bei Immobilienwerten nach der Währungsreform von 1948 grob von einem Umrechnungsfaktor von mindestens 10:1 aus.
Die Käufer hätten das Haus damals also für weniger als ein Zehntel seines Wertes bekommen. Gleichwohl versuchten sie im Nachhinein, den Preis noch zu drücken, unter anderem weil es verwahrlost sei – seit dem „politischen Umsturz“ seien keine Reparaturen mehr vorgenommen worden, heißt es in einem Gutachten. Dieser Beschwerde wurde jedoch nicht nachgegeben. Die Bausachverständigen des Stadtbauamts Bensheim vertraten mit Nachdruck, dass die Mängel keine Preisminderung rechtfertigen würden. Das war jedoch kein Eintreten für die Rechte der Verkäuferin: Der Kaufpreis kam letztlich allein dem NS-Staat zugute. Das Geld ging auf ein Sperrkonto und unterlag dann verschiedenen Formen der Enteignung.
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