Lindenfels. Dem Besucher mag es seltsam vorkommen, wenn er mit Beginn der Sommerzeit im Burgstädtchen vermehrt die Begriffe „Gäischdeweg“, „Mutze“, „Däälsche“ oder „Bäigelsche“ aufschnappt. Beim engagierten Austausch darüber, ob die „Strumbbennel“ des Ehegatten diesmal wohl halten werden und ausreichend „Schildschesträjer“ gefunden worden seien, mag er womöglich ganz den Zugang zu den Stadtgesprächen verlieren. Auch mag es ihn irritieren, wenn er beobachtet, wie Teenager mit Nachdruck dazu überredet werden, ein Liebespärchen zu werden und die Suche nach einem repräsentativen Brautpaar auf Hochtouren läuft.
Dabei ist dem Lindenfelser längst klar: Burgfest steht vor der Tür. Der jährlich wiederkehrende kollektive Ausstieg aus dem Alltag. Nicht mehr die Stechuhr des Unternehmens, die Bring- und Abholzeiten der Kitas und Schulen oder die Öffnungszeiten der Einkaufsmöglichkeiten, sondern einzig die nächste Hähnchenausgabe, die „grouß Drummel“ zur Eröffnung des Umzugs, der große Knall zu Beginn des Feuerwerks, die bengalische Beleuchtung sowie vor einigen Jahren noch die Spielzeiten des Bauerntheaters stiften zeitliche und örtliche Orientierung. Und jeder weiß, dass sich die Bezeichnungen „drowwe“, „nuff“ und „owwenaus“ ab sofort auf den Verbleib auf der Burg beziehungsweise das Vorhaben, diese zu besteigen, beziehen.
Newsletter "Guten Morgen Bergstraße"
Der mehrfache Besitz von Eintrittsplaketten wird stolz, jedoch meist nicht öffentlich verkündet. Nicht selten wird gar mit ihnen gedealt. Dabei ist das Burgfest durchaus als eine friedliche Zusammenkunft bekannt (es ranken sich nur noch ein paar wenige Legenden von fliegenden Bierbänken um das Geschehen). Jung und Alt haken sich unter und geben ihrer Heimatverbundenheit feucht fröhlichen Ausdruck. Dabei ist der Burgfestmontag besonders beliebt – denn da geht das Ganze bereits morgens los.
Unter der Anwendung Odenwälder Mundart und Liedguts wird das, was das Leben lebenswert erscheinen lässt, auf seinen tief empfundenen Kern heruntergebrochen und in bildlicher Sprachform zum Ausdruck gebracht: Zunächst muss „e Haisel her“, darin wohnen sollte „e Weiwel“ – „schwarzlockig mit weiße Zäih“ – kurz darauf sollte „en Bu mit grolle Hoar“ folgen, wobei genderkonform umgehend eingeräumt wird: „un do dezwische noi därft’s aa e Mädsche soi“.
Schäi wie dehoam . . .
Die Pointe der Lieder ähnelt sich in der Regel und kommt wiederkehrend zu der Erkenntnis: „Schäi wie dehoam is’ näijends oannerscht mei.“ Zwingend logisch erscheint deshalb auch die nächste Aussage: „Schließ ich zur letschde Ruh emol moi Aaache zu, ob jung ich orre oalt, sou sei’s im Ourewoald!“. Doch man unterhält sich hiermit nicht nur, sondern diese Prinzipien werden auch gelebt: Nur allzu natürlich erscheint es uns deshalb, wenn auf einer Beerdigung die „Burgfestpolka“ (Gablonzer Perlen) als letzter Gruß an die Verstorbenen gespielt wird.
Bei aller Tradition, die durch das Tragen von Trachten verbildlicht und eingespielten Abläufen verstetigt wird, kann sich auch das Burgfest der Modernisierung nicht entziehen. So muss eine eingeschweißte Sängergruppe seit einigen Jahren hinnehmen, dass sich neben der „oald Gaaß“ die „nai Gaaß“ beim Nachwuchs etabliert hat.
Betrachtet man es aus einer abstrakten Perspektive, so ist das Volksfest die Verkörperung eines Sehnsuchtsortes, an dem Liebe und Geborgenheit in einer kindheitserinnernden Form zusammenfließen. Vor allem die Heimatliebe wird dort in Form von Symbolen und Gesang sowie Routinen gemeinschaftlich zum Ausdruck gebracht – eine auf den Gipfel getriebene Weise der Sozialintegration wird hier betrieben, der man sich mit der Geburt beziehungsweise dem Aufwachsen im Burgstädtchen nur schwer entziehen kann.
So haben Interkontinentalflüge aus dem globalen Süden, Westen, Norden und auch Osten am ersten Augustwochenende nicht selten Reisende mit dem Ziel „Burgfest Lindenfels“ an Bord. Das individuelle Zugehörigkeitsgefühl wirkt hierbei wie ein unsichtbarer Magnet, und Urlaubsreisen über die Festtage gilt es vor sich und vor allem auch allen anderen in besonders nachvollziehbarem Maße zu rechtfertigen. Die Betreuung der kleinen Lindenfelser wird an Burgfest zur gemeinschaftlichen Aufgabe. Außerdem bekommt man sie in der Regel sowieso nur selten zu Gesicht – sie sind mit der Leerguttransportlogistik meist schwer beschäftigt.
Doch bei aller Ironie und womöglich auch Naivität, die die obige Beschreibung anmuten lässt, fragt man sich doch, warum eine ganze Stadt seit dem Jahr 1904 immer wieder von Neuem darauf hinfiebert, ihr Burgfest feiern zu können.
. . . is’ näijends oannerscht mei
Heimatverbundenheit trägt zu einem Sicherheitsgefühl im alltäglichen Leben bei. Sie ist verknüpft mit persönlichen Gefühlen. Es geht um Erinnerungen an unsere Kindheit, unsere Rituale, unser kulturelles Gedächtnis. Für die Lindenfelser geht es um Gerüche, Geschmäcker, Melodien und Gefühle, die unsere Heimat generationsübergreifend erlebbar und empfindbar machen. Es sind die verschiedenen Formen der Vertrautheit, die uns in besonderem Maße Geborgenheit stiften: die bunten Farben der Burgfest-Blumen (Hortensien), die einem beim Umzug fröhlich entgegenwinken, der Geruch von Bratfett, die immer gleichen Lieder mit der immer gleichen Erkenntnis, die von den immer gleichen Leuten mit dem immer gleich großen Herzblut gespielt und gesungen werden, der weite Blick von der Burgmauer und in den belebten Innenhof, um dessen Mittelpunkt, die Linde, ausgelassen getanzt wird sowie der Anblick der feinen Stickereien auf den Trachten, die oft seit Generationen in den Familien weitergeben werden.
Ja, es sind sogar der Zwiebel-Fisch-Duft, der einem beim Eintritt durch das Burgtor entgegenweht sowie das schwitzige Kratzen in den Wollsocken der Odenwälder Bauerntracht, die uns ein besonderes Gefühl von Zuhause-Sein geben. Wir schmecken, riechen, fühlen und sehen an diesen vier Tagen unsere Heimat – und das in geselliger Runde. Heimat zu empfinden kann dabei auch bedeuten, das Gefühl zu haben, sich nicht beweisen zu müssen. Eine sehr begrüßenswerte Situation fernab der manchmal sehr herausfordernden Alltagswelt. Dabei ist Heimatverbundenheit nicht allein ein Lindenfelser Phänomen. Jemandem zu begegnen, der seine Heimat aufgeben musste, könnte uns daher besonders aufhorchen lassen.
Ich wünsche uns allen ein schönes Burgfest. Und nach Burgfest kommt doch eigentlich nur noch Weihnachten. Und dann auch schon wieder Burgfest.
Die Lindenfelserin Kristina Höly ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Max-Weber-Instituts für Soziologie in Heidelberg.
Quellen: Panke-Kochinke, Birgit (2021): Die Konstruktion der Heimatliebe. Eine Untersuchung im deutschen Leihbuch- und Heftroman (1960-2020), Baden-Baden: Tectum Verlag.
Interview mit Armin Nassehi vom 26. März 2018: Heimat-Debatte: „Misslungene Symbolpolitik“. Deutsche Welle [https://www.dw.com/de/heimat-debatte-misslungene-symbolpolitik/a-43130178; zuletzt abgerufen am 7. Juli 2021].
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/lindenfels_artikel,-lindenfels-warum-den-lindenfelsern-das-burg-und-trachtenfest-so-wichtig-ist-_arid,1981767.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/lindenfels.html