Seidenbuch. Keule schläft im Leichenwagen. Zumindest für ein Wochenende in Seidenbuch. Aber eigentlich ist der ehemalige Bestattungsanhänger ideal für ein kurzes Camping in der Horizontalen. Und im Übrigen heißt der Mann laut Ausweis Stephan Kirsten. Offiziell süchtig seit 1984. Aber nicht nach morbiden Übernachtungsvarianten, sondern nach einem britischen Klassiker mit Legendenstatus: dem originalen Mini.
Keule gehört zu den „Anonymen Miniholikern Darmstadt“. Ein Liebhaber-Club, der vor über 30 Jahren gegründet wurde und sich der Pflege, Nutzung und Bewunderung eines automobilen Charakterkopfs verschrieben hat. Aktuell zählt die Gruppe rund 20 unheilbar Abhängige, die sich zwei Mal im Monat in Darmstadt zur Selbsttherapie treffen.
Zum 17. Mal versammelten sich auf deren Einladung am Wochenende Mini-Fans aus ganz Europa auf dem Sportplatz in Seidenbuch. Über 60 Fahrzeuge, weit über 100 Gäste und knapp drei Tage Sonne. Ein gelungenes Treffen, das nach der Corona-Version im vergangenen Jahr wieder etwas entspannter ablief. Die Stimmung auf der Wiese glich eher einem Familientreffen denn einer gewöhnlichen Oldtimer-Parade.
In der regionalen Szene ist Stephan Kirsten eine Art Prototyp: Mini-Lexikon im Kopf, Mini-Anstecker im Ohr, und ein feines Händchen als Mini-Restaurator. Über 18 Jahre lang hat er einen Kombi auf Vordermann gebracht. Ein Rundgang mit ihm gleicht einem fachkundigen Ausflug in die Tiefen der durchaus komplexen Mini-Historie, die in vier Jahrzehnten etliche Varianten und Versionen hervorgebracht hatte.
Der Zusammenschluss der Austin Motor Company mit der Morris Motor Company sowie die Nachfolgefirmen British Leyland und Rover und die Modelle von Lizenzpartnern wie Innocenti (Italien), Authi sowie IMA in Spanien und Portugal machen die Mini-Biografie für Externe ziemlich unübersichtlich. Doch der Ruhm des kleinen Engländers dauert an - obwohl BMW sich vor 20 Jahren erdreistet hat, den Urtyp des Kleinwagens in einer modernen Fassung neu aufzulegen.
Ein Kind der Suezkrise
Viele Klassik-Freunde tolerieren das mittlerweile, manche fahren den BMW-Mini sogar im Alltag. Doch das Gokart-Feeling, von dem alle schwärmen, und das besondere Charisma des Fahrzeugs konnten die Münchner nicht in die Gegenwart retten.
Als die britischen Inseln Ende der 1950-er Jahre von der Suezkrise erwischt wurden und der nationale Ölstand über Nacht in den Keller gesackt war, hatte der griechisch-stämmige Ingenieur Alec Issigonis eine Idee: Er schuf einen kleinen, praktischen und vor allem preiswerten Wagen, den jeder fahren - und lieben konnte. Im Jahr 1959 begann sein Siegeszug. Im Oktober 2000 lief der letzte Ur-Mini vom Band. Doch der Ersatzteilmarkt für den Oldie ist nach wie vor lebendig. „Man bekommt in der Regel schnell und günstig alles, was man braucht“, so Clubmitglied Ralf, der - wie viele Kollegen - auch ein begeisterter Schrauber ist. Er steuert einen England-Import von 1990 mit 42 PS. Die feine britische Art.
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Der Union Jack ist auf der Seidenbucher Wiese allgegenwärtig. Als Lackierung oder Tattoo, als Fahne und Aufkleber. „Es gibt nur einen wahren Mini“, betont Ralf, der mit seinem Wagen auch zur Arbeit fährt. Doch die Frankfurter Straßen seien mies. Voller Schlaglöcher. Und der Star der British Motor Corporation (BMC) reicht Unebenheiten relativ ungedämpft an menschliche Gesäße und Wirbelsäulen weiter. Doch in keinem anderen Kompaktfahrzeug ist man dem Asphalt näher. „Hart gefedert, aber eine wahnsinnige Straßenlage“, so ein Gast aus dem Bayrischen.
Den kosmopolitischen Glanz der Marke spiegelten die internationalen Gäste, die in den Odenwald gekommen waren: Minipiloten aus ganz Deutschland, aber auch aus der Schweiz, aus Belgien, England, Irland und den Niederlanden waren zugegen. Mini versteht jeder. Zwar gab es am Wochenende weder Live-Musik noch Ausfahrten in die Umgebung (Corona wirkt noch nach), doch atmosphärisch war das Treffen kaum von den Vorgängern zu unterscheiden.
Auf dem Terrain präsentierten sich etliche Mini-Cooper, benannt nach John Cooper, dem Haustuner des britischen Werks. Diese von vielen Insidern als authentischste Variante geschätzten Autos zeigen meistens weiße Streifen auf der Motorhaube und ein andersfarbiges Dach. Statt 34 haben die Coopers 55 oder gar 70 PS im Vier-Zylinder-Reihenmotor mit 1000 Kubik. Ziemlich üppig bei 700 Kilogramm Leergewicht.
Der Mini Moke wiederum war ursprünglich als Armeefahrzeug konzipiert, wurde jedoch mangels Bodenfreiheit, Zuladung und Leistung dann doch nicht fürs Militär gebaut. Er entwickelte sich zu einem Kultmobil der 1960-er Jahre und hatte unter anderem einen Auftritt im James-Bond-Film „Man lebt nur zweimal“.
Rostansatz inklusive
In Seidenbuch waren zahlreiche weitere Schönheiten zu sehen. Unter anderem der original Clubman mit eckiger Front aus den frühen 70-er Jahren und der ursprüngliche Kombi mit verlängertem Radstand. Zu den Exoten gehörten ein Mini Marcos aus den 60-er Jahren - eine Rennversion mit Kunststoffkarosserie - sowie ein Riley Elf MK III, der wie der Wolseley Hornet auf dem Mini basiert und 1961 von der BMC auf den Markt gebracht wurde. Er hat einen angesetzten Kofferraum, den Keule als „außenanliegendes Handschuhfach“ bezeichnet. Daneben parkten etliche andere Kit Cars (Bausatzautos) auf Minibasis, die von ihren Besitzern zu kantigen Einzelstücken herausgeputzt wurden.
Größtes Handicap aller Minis: der Rost. Viele Schweißnähte, darunter die markant-typische Falz am vorderen Kotflügel, wurden nach außen verlegt. Manche sagen, damit man den Rost besser sehen kann. Aber auch an den Türen und an der Heckklappe ist die Korrosion gefräßig. Laut Keule sind vor allem die letzten vom Band gelaufenen Modelle bis zum Jahr 2000 gefährdet, weil sie lange im Freien gelagert wurden und daher oft schon inklusive Rostansatz ausgeliefert wurden. Der glasfaserverstärkte Marcos hat dieses Problem nicht.
Eine Unterart der Minifahrer will auf den rötlichen Schimmer am liebsten gar nicht verzichten. Einer hat sein Auto - außer Motorhaube und Türen - mit Rostlack behandelt, um eine spektakuläre „alte“ Patina zu erzeugen. Liebhaber des „Rat-Looks“ (Rattenoptik) waren auch in Seidenbuch dabei. Sie tun alles, um ihre Fahrzeuge angeranzt und schrottreif aussehen zu lassen.
Keule öffnet seinen Anhänger. Wo einst Verblichene transportiert wurden, nächtigen jetzt zwei erwachsene Menschen mit vitaler Leidenschaft fürs morgendliche Aufwachen. Unter die Zwischenwand passen Klamotten und andere Kleinigkeiten. „Es gibt ja nur zwei kleine Wohnwagen, die man mit einem Mini ziehen darf“, so der Fahrer über seinen flachen Anhang, der so schmal ist, dass man vorn nicht einmal breitere Außenspiegel benötigt. Ein Minicamper, der Lebensfreude vermittelt. Trotz der tödlichen Vergangenheit.
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