Lindenfels. Eine Ära ist in Lindenfels zu Ende gegangen: Nach 72 Jahren gibt es in der Burgstadt keinen Hausarzt Wetzig mehr. Dr. Gerhard Wetzig ist im Juni nach 36 Jahren in den Ruhestand gegangen. Die meiste Zeit hat er in den Praxisräumen in der Nibelungenstraße Patienten behandelt, die er 1986 von seinem Vater übernommen hat. Und der war zuvor auch 36 Jahre lang Arzt in Lindenfels. „Ich habe ihn um ein Quartal übertroffen“, sagt der frischgebackene Ruheständler Gerhard Wetzig.
Zuletzt arbeitete der Allgemeinarzt auf einer 75-Prozent-Stelle im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) des Kreiskrankenhauses, das ebenfalls in der Nibelungenstraße liegt. In den vergangenen Jahrzehnten hat er aber mehr getan als nur Patienten zu behandeln. Er baute den Ärztlichen Bereitschaftsdienst mit auf, der 2014 in die Kassenärztliche Vereinigung überging. Als sich das Aus des Luisenkrankenhauses abzeichnete, war Wetzig in vorderster Front derer, die sich vehement für den Erhalt der Klinik einsetzten. Das Krankenhaus schloss 2016 trotzdem. Wetzig, und andere gründeten daraufhin die Ärztegenossenschaft Gesundheitsversorgung im Vorderen Odenwald (Ägivo). Wetzig stellte dem neuen Zusammenschluss seine Praxisräume zur Verfügung und war fortan Angestellter der Genossenschaft. Gegen Ende seiner Schaffenszeit wollte er nur noch Notdienste machen, nahm aber dann im Oktober 2019 eine 15-Stunden-Stelle im MVZ an, die dann nach und nach zu einer 30-Stunden-Stelle wurde. Es hätte sonst Engpässe gegeben, sagt Wetzig heute.
Lachende und weinende Augen
Seinen Abschied aus dem Behandlungszimmer sieht er mit „zwei lachenden und einem weinenden Auge“, wie er es formuliert. Auf der einen Seite sei der Abschied von seinen vielen treuen Patienten emotional gewesen. Zu vielen von ihnen habe er über all die Zeit eine enge Bindung aufgebaut, sagt der Mediziner im Ruhestand. Auf der anderen Seite nagten die Jahre der harten Arbeit ohne viel Freizeit an ihm. „Ich hätte trotzdem noch weiter gemacht – wenn Corona nicht gewesen wäre“, bekennt Wetzig.
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Die letzten Jahre im Beruf waren etwas anders, als der Mediziner sie sich vorgestellt hatte. Er war gerade wenige Monate am neuen Arbeitsplatz, als die erste Corona-Pandemiewelle über den Globus rollte und auch vor Lindenfels nicht halt machte. Jeden Tag neue Vorgaben aus Berlin, Wiesbaden oder Heppenheim, Arbeiten mit Mundschutz und viele Diskussionen mit Patienten waren die Folge. „Ich hatte pro Patient zehn Minuten zusätzlichen Aufklärungsaufwand“, blickt Wetzig zurück. Später kamen Ausfälle im Team durch Infektionen hinzu.
„Wenn man bei uns mal nicht durchkommt, dann liegt das nicht daran, dass wir Kaffee trinken“, betont der Arzt – und spricht dabei immer noch von „wir“ und in der Gegenwartsform. Im ärztlichen Bereich sei zumindest seine Nachfolge gesichert. Es würden aber Medizinische Fachangestellte gesucht. Oft stehe nur eine Fachangestellte am Empfang, eigentlich sollten es zwei sein.
Schwierige Anfangsjahre
Wetzig hat aber auch schon früher harte Zeiten in seinem Beruf erlebt. 1984 hatte er sein drittes Staatsexamen absolviert und dann im Luisenkrankenhaus sowie bei einem Kinderarzt in Heppenheim gearbeitet, bevor er die Praxis des Vaters übernahm. Damals gab es noch keine Notrufnummer 112, dafür Präsenzpflicht und Residenzpflicht, ein Hausarzt musste praktisch immer erreichbar sein, wenn er keinen Vertreter benannt hatte. Nebenbei bildete sich Wetzig weiter. In dieser Zeit habe er schon einmal ans Aufhören gedacht: Er entdeckte in einer der wenigen freien Stunden das Tauchen für sich und spielte mit dem Gedanken, sich als Tauchmediziner auf die Malediven oder nach Ägypten abzusetzen. Letztlich kam es dazu nicht, Wetzig heiratete, wurde Vater und blieb Hausarzt in Lindenfels.
Es wurde auch etwas leichter. Anfang der 90er Jahre bauten Wetzig und andere Ärzte einen Kollegialdienst auf, bei dem sie sich gegenseitig vertreten konnten. Es folgte eine Notdienstzentrale, zuständig für Lindenfels, Lautertal, Reichelsheim, Modautal, später auch Wald-Michelbach und Brensbach.
Früh hatte Wetzig vor Lücken in der Gesundheitsversorgung auf dem Land gewarnt. Dass der Ärztliche Bereitschaftsdienst und das MVZ in Lindenfels blieben, sei zwar wichtig: „Es ist aber kein Ersatz für die Luise“. Es sei ein gutes Krankenhaus gewesen, vor allem aber ein „menschliches“, nahe an den Patienten. In heutigen Zeiten sei er am Telefon oft kaum durchgekommen, wenn er jemanden an eine Klinik in der Umgebung überweisen wollte. Notwendige Klinikaufenthalte seien bisweilen sehr schwer zu organisieren.
Und dann ist da noch der Nachwuchs. „Die Einzelpraxis auf dem Land ist tot“, ist der Arzt überzeugt. Die jüngeren Mediziner hätten eine andere Einstellung als die Vorgänger, viele wollten sich nicht mehr mit der ausufernden Bürokratie befassen, die schon ihn selbst nervte.
Die Balance zwischen Freizeit und Arbeit sei vielen wichtig geworden, oft müsse Kindererziehung mit dem Job unter einen Hut gebracht werden, in einer Zeit, in der immer mehr Frauen in die medizinischen Berufe streben. Das sei auch in Ordnung so, findet Wetzig: „Aber es muss organisiert werden.“ Das fange schon mit mehr Studienplätzen für angehende Mediziner an. Das Modell der Ärztegenossenschaft, in der die Ärzte Patienten behandeln, kein unternehmerisches Risiko tragen und die Verwaltung andere übernehmen, hält er nach wie vor für einen vielversprechenden Weg. Im MVZ sind die Ärzte ebenfalls angestellt und können sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren.
Basteln am Motorrad
Wie groß der Verwaltungsaufwand für einen Arzt ist, zeigt auch die Hauptbeschäftigung Wetzigs nach seinem letzten Arbeitstag. Da ging es erstmal ums Aufräumen, 180 Kilogramm Altkartei lagern im Keller. Auch im MVZ gelte es noch, Papierkram abzuarbeiten. Ist all dies erledigt, hat der Arzt im Ruhestand aber andere Dinge vor. Wetzig will ein altes Motorrad restaurieren, eine BMW R 26, Baujahr 1956 – sein Geburtsjahr. Außerdem wolle er reisen und viel Sport machen. Irgendwann werde er vielleicht auch wieder Notdienste übernehmen – „aber erst, wenn Corona vorbei ist“.
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