Bensheim. Rund 80 Stolpersteine zum Gedenken an Opfer der NS-Diktatur hat der Künstler Gunter Demnig allein in Bensheim schon verlegt. Am Donnerstag sind neun weitere hinzugekommen. Am Vormittag setzte Demnig die Pflastersteine, die mit einer Messingplatte mit Namen und Lebensdaten der Opfer versehen sind, rechts neben dem Haupteingang des Kaufhauses Ganz. Am Abend wurden die Stolpersteine mit einem kleinen Rahmenprogramm eingeweiht.
Für das Projekt zeichnen die Geschwister-Scholl-Schule (GSS) und die Geschichtswerkstatt der Schule unter Leitung von Peter Ströbel und Frank Maus verantwortlich. Den Anstoß hatte eine vom Kaufhaus Ganz in Auftrag gegebene Untersuchung der Umstände des Verkaufs des Kaufhauses durch seine jüdischen Besitzer an Ernst Ganz im Jahr 1936 gegeben. Die Ergebnisse dieser Recherche wurden in einer umfangreichen Dokumentation veröffentlicht, die gestern Abend im Forum der GSS offiziell vorgestellt wurde.
Mehr als 100 Teilnehmer waren bei der Verlegung der Stolpersteine dabei
Die gewonnenen Erkenntnisse führten aber auch zu der Überzeugung, dass die Erinnerung an die Menschen wachgehalten werden muss, für die das Leben in Deutschland mit dem Jahr 1936 unerträglich geworden war und die ihre Heimat und ihr gesamtes bisheriges Leben aufgaben, um ins Ungewisse zu fliehen. Neun Menschen aus der Kaufmannsfamilie Schwabacher/Jacoby verloren in diesem Sinne alles, nur acht davon konnten in der Fremde überleben, einer konnte der Ermordung nicht entgehen.
Die Einweihung der Stolpersteine stieß mit mehr als 100 Teilnehmern auf großes Interesse. Aus den USA angereist war Howard Wolff mit seiner Ehefrau Susan, Sohn von Else Schwabacher. Seiner Großtante Sophie Jacoby hatte das Kaufhaus zuletzt gehört, seine Mutter hätte ihre Nachfolge antreten sollen.
Bürgermeisterin Christine Klein, zugleich Schirmherrin der Stolpersteinverlegung, bedankte sich bei allen Schülern und Lehrern, die zu dem Projekt beigetragen hatten, aber auch bei der heutigen Inhaberfamilie des Kaufhauses, Katjuscha Maschik und Tatjana Steinbrenner sowie deren Vater Peter Sturm. Klein hob die Bedeutung der Stolpersteine als „Steine des Erinnerns und des Mahnens“ hervor. Hinter jedem Namen stehe ein Mensch, der Teil der Gesellschaft gewesen sei, sagte sie.
Gerhild Hoppe-Renner sprach für das Team der Schulleitung der GSS. Ihr Dank galt allen, die das Zustandekommen ermöglicht hatten und insbesondere den Inhabern des Kaufhauses Ganz, deren Anstoß zu den Recherchen letztlich zum Anstoß zum Setzen der Stolpersteine geworden sei. Künftig werde man das Kaufhaus nicht mehr blauäugig betreten, sondern irritiert – und das sei der Sinn der Stolpersteine, nämlich der Dialog mit unserer ganz konkreten Geschichte.
Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 9 aus Ethik- und Religionskursen der Lehrer Frank Maus und Kozeta Kokollari trugen dann die Kurzbiografien der einzelnen Familienmitglieder vor und hielten jeweils große Porträtfotos in die Höhe. Nicht alle waren in Bensheim geboren oder hatten hier längere Zeit gelebt. Aber in Bensheim hatte sich am Ende fast die gesamte Familie Schwabacher/Jacoby versammelt, von hier aus traten ihre Mitglieder ihre individuellen Fluchtwege an.
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Matthias Jakob, Musiklehrer im Ruhestand und in der Region vielfach bei Konzerten zu hören, zuletzt vor wenigen Tagen mit dem Ensemble Concertino in der evangelischen Kirche in Schwanheim, bereicherte die kleine Feier mit Instrumentalstücken auf der Gitarre und begleitete auch das von allen gemeinsam gesungene hebräische Volkslied „Hevenu Shalom Alechem“ (Wir wollen Frieden auf Erden). Mit einem von den Schülerinnen und Schülern vorgetragenen interreligiösen Gebet endete die Einweihungsfeier.
Die Lebenswege der Verfolgten aus der Familie Schwabacher/Jacoby im Einzelnen
- Sophie Jacoby, geb. Kitzinger: Sie wurde 1883 in der Nähe von Ulm geboren und heiratete mit 22 Jahren den Bensheimer Kaufmann Zacharias Jacoby. Sie führte das Kaufhaus ihres Mannes nach dessen Tod 1932 allein weiter. Die Ehe war kinderlos. Deshalb wurde sie von Else und Leopold Schwabacher unterstützt, den Kindern ihrer älteren Schwester Klara. 1936 verkaufte sie das Kaufhaus, um genügend Geld für ihre Flucht aus Deutschland zu haben. Sie emigrierte nach Palästina, kehrte 1938 aber nach Europa zurück und zog nach Paris, wo jetzt ein Großteil ihre Familie lebte. Als dann der Krieg ausbrach, blieb die ältere Generation allein in Paris zurück. Als die deutsche Wehrmacht 1940 Paris besetzte, floh sie mit ihrer Schwester Klara und deren Mann. Sie wurde von der französischen Polizei verhaftet und im Lager Gurs festgesetzt, kam aber noch frei, bevor die deutsche Wehrmacht das Lager übernahm. Schließlich konnte sie in die USA ausreisen, hatte dort wegen fehlender Sprachkenntnisse aber Schwierigkeiten, sich einzuleben. Sie starb im Alter von 73 Jahren.
- Else Wolff, geb. Schwabacher: Mit 15 Jahren zog Else aus Memmingen 1922 zu ihrer Tante Sophie Jacoby und ihrem Onkel Zacharias nach Bensheim, machte hier ihre kaufmännische Ausbildung und half später ihrem Onkel bei der Geschäftsführung. Nach dem Tod des Onkels unterstützte sie zusammen mit ihrem Bruder die Tante und wurde von ihr zur Miteigentümerin bestimmt. Mit dem Verkauf des Kaufhauses 1936 verlor Else ihre Existenzgrundlage und floh 1937 mit den Eltern nach Paris. 1939 konnte Else dank der Bürgschaft eines Verwandten in die USA auswandern. Nach Gelegenheitsjobs erwarb sie mit dem Bruder einen Laden für Kinderschuhe, heiratete 1943 und eröffnete mit ihrem Ehemann Walther Wolff ein eigenes Geschäft. Ein Jahr später kam ihr Sohn Howard zur Welt. Sie starb im Alter von 101 Jahren in Deerfield. 1992 hatte sie ihre ehemalige Heimat Bensheim noch einmal auf Einladung der Stadt besucht.
- Klara und David Schwabacher: Elses Eltern, stammten aus Viehhändlerfamilien in jüdischen Landgemeinden in Bayerisch Schwaben. Die beiden heirateten 1902, lebten in Memmingen und hatten insgesamt sechs Kinder. Im Ersten Weltkrieg kämpfte David an der Ostfront. Unter den Nationalsozialisten musste er seine Viehhandlung verkaufen. David und Klara zogen 1935 zu Klaras Schwester Sophie Jacoby nach Bensheim, wo auch ihre Tochter Else arbeitete. Gemeinsam beschlossen sie, Deutschland zu verlassen. Nach dem Verkauf des Kaufhauses in der Hauptstraße 56 zogen David und Klara zusammen mit Else nach Paris, flohen nach Südfrankreich und konnten mit Hilfe ihrer Kinder 1941 in die USA auswandern. David starb 8 Jahre nach seiner Ankunft in den USA, Klara überlebte ihn um 19 Jahre.
- Bertha Oswald, geb. Schwabacher: Die älteste Schwabacher-Tochter zog nach dem Besuch einer Handelsschule in Mainz für ein Jahr nach Bensheim, um bei Onkel und Tante im Kaufhaus zu arbeiten. Zurück in Memmingen arbeitete sie als Buchhalterin und Handelsbevollmächtigte in einer Woll- und Weißwarenhandlung. 1935 musste sie ihre Stelle wegen ihrer jüdischen Herkunft aufgeben und zog wieder nach Bensheim, wo sie vermutlich für die Filiale des Kaufhauses in Lorsch zuständig war. 1936 ging sie mit ihrer Tante Sophie für zwei Jahre nach Palästina, dann zu ihrer Familie nach Paris, heiratete dort den Viehhändler Hans Oswald und wanderte mit ihm 1939 in die USA aus. Bertha starb wenige Monate vor ihrem 90. Geburtstag.
- Leopold Schwabacher: Der älteste Sohn der Schwabacher Geschwister arbeitete nach einer Banklehre für verschiedene Firmen in Memmingen, Freiburg und Aschaffenburg. Nach dem Tod seines Onkels zog er 1932 nach Bensheim, um seine Tante Sophie und seine Schwester Else bei der Geschäftsführung zu unterstützen. 1934 verließ er Deutschland und eröffnete mit seinem jüngsten Bruder Fritz einen Lebensmittelladen in Paris. Er konnte im Jahr 1939 dank einer Bürgschaft in die USA auswandern. Er übernahm mit seiner Schwester einen Kinderschuhladen, heiratete bald eine in Hessen geborene Frau und bekam mit ihr einen Sohn. Er starb 1992 in Peoria.
- Paula Gerschlowitz, geb. Schwabacher: Sie machte eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete als Kontoristin. 1929 zog sie – wie vor ihr Schwester Bertha – für ein Jahr nach Bensheim zu Tante Sophie und Onkel Zacharias und half dort zusammen mit Else im Kaufhaus. Dann ging sie nach Memmingen zurück. Ihre Stelle als Verkäuferin dort wurde ihr 1934 vermutlich wegen ihrer jüdischen Herkunft gekündigt. Sie zog schließlich wieder nach Bensheim. Doch als auch ihre Eltern nach Bensheim kamen, zog sie zu einer anderen Tante, wohl um Platz für ihre Eltern zu schaffen. 1936 konnte sie mit Hilfe ihres Bruders Hugo nach Südafrika auswandern, arbeitete in einem Hotel und heiratete. Sie hatte zwei Söhne und lebte bis zu ihrem Tod mit 76 Jahren in Johannesburg.
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- Hugo Schwabacher: Nach der Schule absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung in einer Eisenwaren-Handlung in Memmingen und wurde dort anschließend übernommen. Ihm wurde dann wegen seiner jüdischen Herkunft gekündigt. Er zog nach München und arbeitete in der Branntwein- und Tabak-Großhandlung eines Verwandten. 1935 wurde er auch hier wegen seiner Herkunft entlassen und zog für einen Monat zu den anderen Familienmitgliedern nach Bensheim. Von hier aus wanderte er nach Südafrika aus. Er heiratete dort eine Frau aus dem Schwäbischen, die ebenfalls 1936 aus Deutschland geflohen war, und bekam zwei Kinder. Hugo wurde 95 Jahre alt.
- Fritz Schwabacher: Das jüngste Kind der Schwabachers zog nach einer Lehre in einem Drogerie- und Lebensmittelgeschäft und dem Besuch der Handels- und Dekorationsschule in München 1932 nach Aschaffenburg und arbeitete als Schaufensterdekorateur bis ihm 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft gekündigt wurde. Er ging an die Universität von Nancy, um Französisch zu lernen. Mit seinem Bruder Leopold eröffnete er in Paris eine Lebensmittel- und Weinhandlung als neue Existenzgrundlage für die ganze Familie. Doch bald gelang den Geschwistern die weitere Auswanderung. Das Lebensmittelgeschäft musste schließen. Bei Kriegsausbruch waren außer Fritz nur noch die Eltern und Tante Sophie in Paris. Um einer Verhaftung als feindlicher Ausländer zu entgehen und die Zurückgelassenen versorgen zu können, meldete sich Fritz zum französischen Militär. Er diente in der Fremdenlegion, wurde aber entlassen, als die deutsche Wehrmacht Frankreich angriff und Paris besetzte. Die Familie floh mit Millionen anderen in den Süden Frankreichs, konnte aber nicht zusammenbleiben. Während den Eltern und Tante Sophie die Flucht in die USA gelang, hielt sich Fritz als Fluchthelfer in den Pyrenäen auf. Dabei wurde er im Winter 1942/43 verhaftet, im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort im Alter von 29 Jahren ermordet.
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