Gedenkstein erinnert in Bensheim auf zwei Seiten an Verbrechen

Am Wegesrand: Wer zu Fuß geht, der kann viel erleben und nicht nur nette Mitmenschen zum Plausch treffen, sondern an allen Ecken auch (meist) steinerne Zeugen vergangener Zeiten. Genau besehen, ist das gesamte Bensheim Stadtgebiet ein Freiluftmuseum.

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Der Gedenkstein am Kirchberg mit den beiden Inschriften aus den Jahren 1954 (l.) und 1991 – fast ein halbes Jahrhundert hatte es gedauert, bis die Opfer tatsächlich benannt wurden. © Eva Bambach

Bensheim. Wenn man vom Eingang des Brunnenwegs aus rechts steil den Hang Richtung Kirchberg hinaufgeht, stößt man auf einen großen Granitfindling, der auf zwei Seiten beschriftet ist. Ins Tal gewandt ist die summarische Widmung „Den politischen Opfern der Jahre 1933 – 1945“ zu lesen, zum am Hang gelegenen Plateau gerichtet, das mit einer Bank und einem Beet zu einer bescheidenen Gedenkstätte gestaltet ist, steht: „Am 24. März 1945 wurden hier zwölf Gefangene, Männer und Frauen, von der Gestapo erschossen. Drei Tage fehlten zur Freiheit. Mit dem Einmarsch der Amerikaner, am 27. März 1945, war der Krieg in Bensheim zu Ende.“ Auf einer kleinen Metalltafel folgen dann die Namen der Ermordeten mit der Überschrift: „Die Ermordeten waren nicht namenlos, die Täter aber auch nicht.“

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Ins Auge fällt nicht nur die doppelte Beschriftung, vorn und hinten, sondern auch die Ausführung der Buchstaben in gebrochener Schrift, wie sie in Deutschland bis zu Adolf Hitlers Normalschrifterlass im Jahr 1941 verbreitet war. Beide Seiten verwenden diese Schrift gleichermaßen, wobei die erste, dem Tal zugewandte Inschrift aus dem Jahr 1954 stammt, die zweite, ausführliche aber erst aus dem Jahr 1991. Der Stein ist jedes Jahr Mittelpunkt einer Veranstaltung mit Reden und Musik, mit der an die schrecklichen Geschehnisse erinnert wird. Alle zehn Jahre gibt es einen in privater Initiative organisierten Gedenkgang zum Denkmal vom ehemaligen Gestapogefängnis in der Darmstädter Straße aus.

„Ein einfacher Findling genügt“, fand man im Jahr 1953

Im Juli 1953 hatte die SPD-Fraktion einen Antrag an die Stadtverordnetenversammlung gestellt, ein „einfaches Mahnmal“ für die „durch die Gestapo ermordeten Gefangenen zu errichten. Ein einfacher Findling würde vollkommen genügen“, heißt es im Protokoll. Als Reaktion darauf beantragte in derselben Sitzung der Vertreter der Partei des Bunds der Heimatvertriebenen und Entrechteten, unterstützt von dem Vertreter der FDP, „die im Kurpark stehende Säule zu einer Gedenkstätte für die Opfer des Zweiten Weltkriegs auszugestalten“.

Dergestalt umgewidmet wurde nach diesen Vorstellungen das 1936 an der höchsten Stelle des Parks errichtete „Kreisehrenmal“ für sechs zwischen 1929 und 1933 umgekommene Nationalsozialisten. So überdauerte es bis zur Neugestaltung des Parks im Jahr 2000.

Eingeweiht wurde der Gedenkstein am Kirchberg dann ein Jahr später, am 26. Juli 1954, allerdings nicht am Ort der Aufstellung, sondern wegen starken Regens im Rathaussitzungssaal. Anwesend waren neben Bürgermeister Wilhelm Kilian, den Spitzen der Verwaltung und einigen Stadtverordneten auch ehemals Verfolgte und Vertreter des Verbands der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK), berichtete der BA. Die Stadt und der VdK hatten je einen Kranz gestiftet.

© Eva Bambach

Der Festredner, der selbst im Bensheimer Gestapo-Gefängnis gesessen hatte, fragte, „wie es habe kommen können, dass Millionen Menschen, Männer und Frauen, hätten umkommen müssen“ und führte den Rückblick von der Dolchstoßlegende des Ersten Weltkriegs bis zur „Parole, dass der letzte Mann für die Sache Hitlers geopfert werden müsse“. „Eine fürchterliche Zeit war es für alle die, die dem Ruf des Gewissens folgten. Für sie waren die Konzentrationslager da, in denen vom Bettler bis zum unschuldigen religiösen oder politischen Opfer und Abgeordneten kein Rang und Stand fehlte. Wenn man daran denke, was dort alles passiert sei, schaudere es einem noch heute bis auf die Haut“, so die Wiedergabe der Rede im BA. Es folgten die Beschreibung der Vorgänge vom 24. März und eine Erinnerung an weitere Opfer in Hessen, insbesondere unter Nennung der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944, dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler.

Ein Bewusstseinswandel nach vier Jahrzehnten

Der Stein stand dann tatsächlich als einfacher Findling fast vier Jahrzehnte lang im Wald. Einer Anregung des Museumsvereins folgend wurde die Inschrift erst dann präzisiert und der Platz erkennbarer als Gedenkstätte gestaltet. Auf Magistratsbeschluss vom 20. Februar 1991 griff die Inschrift den Titel der 1986 von Fritz Kilthau und Peter Krämer veröffentlichten Dokumentation „Drei Tage fehlten zur Freiheit auf“, in der die Ereignisse des 24. März 1945 detailliert untersucht wurden.

Der neue Text sollte zunächst auf der Rückseite des Steins angebracht und der gesamte Platz so gestaltet werden, dass der Stein ganz umgangen werden könnte. Davon wurde in der Ausführung jedoch abgegangen: Der Stein wurde gedreht und zeigt nun mit der neuen Inschrift nach vorn – eine Wende nicht nur physisch, sondern auch in Bezug auf die Bedeutung.

Die Geschichte des gedrehten und neu beschrifteten Steins bildet einen Bewusstseinswandel ab, der nicht nur in Bensheim, sondern in ganz Deutschland im Lauf der Jahrzehnte stattgefunden hat. Generell ist die Geschichte der Gedenkstätten an Orten der NS-Verbrechen noch sehr jung. Sie begann im Großen gesehen erst in den 1970er und 80er Jahren und nahm nach 1990 an Fahrt auf – eine Entwicklung, die auch in Bensheim zu beobachten ist. Seit 1971 erinnerte eine Gedenkplatte an die in der Pogromnacht zerstörte Synagoge. Im Jahr 2000 wurde an deren Stelle ein großes Mahnmal errichtet. An der ehemaligen Synagoge in Auerbach wurde 1987 durch den Auerbacher Synagogenverein eine Gedenktafel angebracht. 1992 wurde eine Gedenktafel an der Bergkirche in Auerbach für die ehemaligen Zwangsarbeiter eingeweiht. Heute machen zunehmend überall im Stadtgebiet durch bürgerschaftliches Engagement, nicht zuletzt von Schülern, gesetzte Stolpersteine auf das Unrecht aufmerksam, das hier an den jüdischen Bürgern verübt wurde.

Schwamm drüber – niemand soll sich schämen müssen

Der 1954 gesetzte Stein war insofern eine sehr frühe Würdigung. Noch immer wurden damals zum Beispiel die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 von weiten Teilen der Bevölkerung als Verräter verunglimpft – als fortschrittlich kann deshalb deren Würdigung durch den Festredner bei der Einweihung des Steins gelten. Geradezu verstörend ist dagegen, dass mit keinem Wort der Juden gedacht wurde. Nebelhaft ist mit der Beschriftung von „unschuldigen religiösen oder politischen“ Opfern die Rede.

Die Inschrift gibt also weder den unweit dieser Stelle Ermordeten (jüdischer Abstammung, Nazi-Gegnern, Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern) ein Gesicht, noch nennt es konkrete Opfergruppen, noch verweist es auf die ganz große, ungeheure Schuld der Vernichtung der jüdischen Bürger des Landes. Das an den Zwangsarbeitern verübte Unrecht war ohnehin noch lang nicht im Bewusstsein angekommen. Deserteure, wie die unweit des Gedenksteins schon am 23. März 1944 erschossenen drei jungen Soldaten, galten noch in den 1980er Jahren vielen als Verbrecher – das Denkmal am Wasserwerk für ihre Hinrichtung wurde erst 2017 eingeweiht.

Der sehr offen formulierte Text der ersten Inschrift ist eine Relativierung des Geschehens, eine Reverenz an die vehement vorgetragene Forderung nach einer Würdigung der Kriegsopfer und zugleich ein Angebot an die Gesellschaft: Die Formulierung konnte jeder auch auf sich beziehen – schließlich hatten ja alle irgendwie gelitten – und das milderte vermutlich auch die Konfrontation mit den eigenen Schamgefühlen.

Offizielle Gedenkstätten wurden vielerorts erst ab 1990 errichtet

Die Kirchbergmorde gehören zu den überall im deutschen Einflussgebiet verübten Endphasenverbrechen in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs. In regelrechten Massakern ermordet wurden Menschen, die der Wehrkraftzersetzung oder der Fahnenflucht beschuldigt wurden, KZ-Häftlinge auf Todesmärschen sowie Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Geahndet wurden diese Taten mit Milde, die Gerichte sprachen von einer schuldentlastenden „Endkampf- und Massenpsychose“. Und in eben dem Jahr der Aufstellung des Gedenksteins wurde das Straffreiheitsgesetz 1954 erlassen, eine Amnestie zur Bereinigung der durch „Kriegs- und Nachkriegsereignisse geschaffenen außergewöhnlichen Verhältnisse“.

In vielen Städten und Gemeinden erfolgte – wenn überhaupt – die Einrichtung einer offiziellen Gedenkstätte erst seit den 1990er Jahren. Auch der Gedenkstein am Kirchberg wurde eigentlich erst im Jahr 1991 zu einem echten Mahnmal für die dort verübten Morde.

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