Ein Kaufhaus mit Geschichte in Bensheim

Im September 2024 erscheint ein neues Buch der Geschichtswerkstatt der Geschwister-Scholl-Schule. Die Lehrer Frank Maus und Peter Ströbel sowie die am Projekt beteiligten Schüler Marc Schwindt (Schüler der Q-Phase) und Maximilian Gaucke (Abi-Jahrgang 2020) berichteten über ihre Erfahrungen.

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So sieht das Kaufhaus Ganz heute aus. © Thomas Neu

Bensheim. Wie interessiert man Jugendliche für Geschichte? Und warum sollte man das überhaupt tun? Für Marc Schwindt, Schüler der Q-Phase an der Bensheimer Geschwister-Scholl-Schule (GSS), ist die Antwort auf die letzte Frage nicht schwer: „Man kann die Welt nur verstehen, wenn man die Geschichte kennt und versteht.“ Frank Maus und Peter Ströbel, beide Lehrer für Geschichte an der GSS, beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der ersten Frage. Als Leiter der Geschichtswerkstatt an der Schule sind sie vor mehr als zwölf Jahren in die Fußstapfen von Peter Lotz und Franz Josef Schäfer getreten, die die Geschichtswerkstatt vor 25 Jahren gegründet hatten. Seit ihrem Bestehen hat diese eine beeindruckende Zahl von Publikationen hervorgebracht, die sich mit der jüngeren Geschichte in der Region auseinandersetzen.

Viele dieser Dokumentationen sind im Buchhandel erhältlich, darunter die „Geschichte der Bensheimer Juden im 20. Jahrhundert“, „Beiträge zur Geschichte des Erbach-Schönberger Fürstenhauses im 20. Jahrhundert“, „Sanner – ein Auerbacher Unternehmen im Wandel“ oder ein Buch über den im KZ Mauthausen ermordeten Zentrumsabgeordneten Fritz Bockius, der in Bensheim zur Schule gegangen war. Das erste Buch der Reihe erschien 1999 und beschäftigte sich mit der Geschichte der Zwangsarbeiter im Heppenheimer Tonwerk. Das jüngste Werk wird am 13. September um 19 Uhr im Forum der GSS vorgestellt und ist eine Aufarbeitung der Geschichte des Kaufhauses Ganz.

Das Kaufhaus Ganz im Jahr 1912. © Thomas Neu

Die Inhalte der Publikationen sind in der Regel von Schülern der Leistungskurse Geschichte erarbeitet worden. Nicht nur die Schüler arbeiten intensiv an den Veröffentlichungen, auch die beiden Lehrer. Die Dokumente müssen vorrecherchiert und häufig auch transkribiert werden, denn die Schüler können die alte Schrift nicht selbstständig lesen. Und am Ende muss alles noch mal ausführlich geprüft und aufbereitet werden, damit ein Buch daraus wird, das wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Denn das ist eines der Ziele der Geschichtswerkstatt: Die Schüler zum wissenschaftlichen Arbeiten hinzuführen – nicht nur als Vorbereitung auf ein eventuelles Studium, sondern auch, um gesellschaftliche Orientierungskompetenz zu erringen und die Fähigkeit zu reflektieren. Das sei ein guter Schutz gegen überhitzte Debatten und man lerne, Normen und Werte zu verstehen, erklären die beiden Lehrer.

Ein weiteres Ziel ist das produktorientierte Arbeiten: Am Ende steht immer ein Buch, eine Ausstellung oder ein Denkmal, wie es zum Beispiel in Zwingenberg entstehen soll, um an Johann Georg Dieffenbach und seinen Beitrag zur Demokratiegeschichte Deutschlands zu erinnern. Insbesondere bei den Buchprojekten erhalten die beteiligten Schülerinnen und Schüler mit dem Abizeugnis auch den bleibenden Wert eines selbsterstellten Buchs, das überall im Buchhandel erhältlich ist. Als drittes Prinzip der pädagogischen Arbeit in der Geschichtswerkstatt bezeichnet Peter Ströbel die außerschulische Vernetzung mit der Zivilgesellschaft, etwa bei Zeitzeugeninterviews, Archivbesuchen und der Begegnung mit Experten.

Das Kaufhaus Ganz im Jahr 1986. © Kaufhaus Ganz

Die Arbeit verhilft auch zu Selbstbewusstsein: „Man wird von den Erwachsenen ganz anders wahrgenommen, wenn man sich als Jugendlicher für die Geschichte der Stadt interessiert. Man wird ernstgenommen“, fasst Marc Schwindt seine Erfahrungen zusammen. Marc arbeitet derzeit in einer Projektgruppe mit zehn weiteren Teilnehmenden an einem Dokumentarfilm über jüdisches Leben in Bensheim, der wie schon vorangegangene Filmprojekte der Geschichtswerkstatt am Ende gut 30 Minuten lang sein wird.

Im Fokus stehen die Geschichte des Kaufhauses Ganz und die Stolpersteinverlegung zur Erinnerung an die ehemaligen Inhaberfamilien des Kaufhauses, Jakoby und Schwabacher, die im September stattfinden wird. „Es geht nicht vor allem um die Toten, sondern darum, wie jüdisches Leben in Bensheim war, wie die Familien geschädigt und enteignet wurden, um deren verlorenes Leben“, so Marc. Das Filmprojekt nahm seinen Anfang in einer Projektwoche der Schule und schließt an ein großes Buchvorhaben an, das im Jahr 2018 an der Schule gestartet wurde und nun in den letzten Zügen liegt. Begonnen hatte es im Jahr 2016. Damals feierte das Kaufhaus Ganz – wie alle zehn Jahre – seine Gründung im Jahr 1936.

An die 80-jährige Geschichte sollten auch ein großes Banner und eine Webseite erinnern, die ein historisches Foto zeigten. Dafür hatte man ausgerechnet ein Bild gewählt, das das Schaufenster des Kaufhauses im Winter 1941/42 zeigt, wo ein großes Plakat für die „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ warb. Das löste eine Diskussion über die Geschichte des Kaufhauses in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus aus, die zu einer Einstufung des Kaufhausbesitzers Ernst Ganz als aggressiver Arisierer führte.

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Den Nachfahren von Ernst Ganz und heutigen Inhabern des Kaufhauses Katjuscha Maschik und Tatjana Steinbrenner war an einer lückenlosen Aufklärung der Vorwürfe gelegen. Sie nahmen Kontakt mit der Geschichtswerkstatt der GSS auf, die sich in der Region einen guten Ruf in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erworben hat. Aus dem Rechercheauftrag wurde ein Buchprojekt mit mehreren hundert Seiten, dessen Druck in Kooperation mit dem Kaufhaus Ganz durchgeführt und vom Bergsträßer Anzeiger lektoriert und gestaltet wird.

Dort wird der Weg von dem von Julius Heineberg 1899 einst in der heutigen oberen Fußgängerzone eröffneten Kaufhaus nachgezeichnet, der über den Verkauf an Zacharias Jakoby, den Umzug an den heutigen Standort in die Hauptstraße 56 und die Geschäftsführung durch die Familie Jacoby und deren Nichte und Neffen aus der Familie Schwabacher führte – bis hin zu dem Kauf 1936 durch Ernst Ganz. Thema ist auch der schwierige Weg der jüdischen Familienmitglieder in die Emigration, der für einen von ihnen, Fritz Schwabacher, mit der Ermordung in Auschwitz endete.

In mehr als 30 Archiven suchten Lehrer und gut 40 Schüler aus Grund- und Leistungskursen Geschichte nach den Spuren, nicht nur im Stadtarchiv Bensheim und im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und dem Privat- und Firmenarchiv der Familie Ganz, sondern ebenso im Karlsruher Generallandesarchiv und in den Arolsen Archives – und auch im Archiv des Bergsträßer Anzeigers, wo beim Pressegespräch noch einmal der Band mit der Anzeige zur Eröffnung des Kaufhauses „Ganz und Birkenmeier, zuvor Jakoby“ am 8. April 1936 hervorgeholt wurde.

Das Kaufhaus Ganz im Jahr 1986. © Kaufhaus Ganz

Die Recherchen waren mit dem Abitur 2020 abgeschlossen, die Veröffentlichung wurde durch die Pandemie jedoch erheblich verzögert. Nun jedoch ist das Buch fast fertig und wird zum 125-jährigen Jubiläum des Kaufhauses vorliegen. Denn das ist – neben einem differenzierten Bild von Ernst Ganz – eines der Ergebnisse der unabhängigen Recherchen: Das Kaufhaus war keine Neugründung von Ernst Ganz im Jahr 1936, sondern es knüpfte an die Tradition und damit an den Ruf an, die seine Vorbesitzer erarbeitet hatten. Damit kann die Geschichte des Kaufhauses auf das Jahr 1899 zurückgeführt werden.

Als Schüler des Leistungskurses Geschichte seit 2018 mit dabei war Maximilian Gaucke. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr und einer Tätigkeit im Handwerk hat er zum Thema zurückgefunden und studiert inzwischen im dritten Semester für das Lehramt Geschichte und Geografie. Doch kann solch intensive Recherchearbeit außerhalb der Unterrichtszeit überhaupt mit dem Lehrplan der Oberstufe vereinbart werden? Einerseits, so Frank Maus, ist das Thema in der Stufe Q2 ohnehin Weimarer Republik und Nationalsozialismus.

Die projektorientierte Vermittlung dieser Inhalte packe die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler an. Das Kaufhaus Ganz zum Beispiel kenne schließlich fast jeder und das zeige: „Auch hier, in meinem Heimatort, hat all das stattgefunden.“ Er habe viel über das jüdische Leben gelernt, bekräftigt Marc. Zuvor habe er das immer nur in Worms verortet, nun habe er zum Beispiel die Grabstätte von Zacharias Jakoby auf dem jüdischen Friedhof in Alsbach besucht und viel über Fakten außerhalb des Holocausts erfahren.

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Lehramtsstudent Maximilian Gaucke findet die Erinnerung an die Verfolgung der Juden wichtig – „damit es nicht nochmal passiert“. Er sei erschüttert über die antisemitischen Gesprächsfetzen, die er in letzter Zeit immer häufiger zum Beispiel im Vorübergehen höre. Man müsse sich aber auch darüber im Klaren sein, dass Geschichte ein sperriges Fach sei und nicht alle einen Leistungskurs Geschichte aus Leidenschaft wählten, macht Maximilian Gaucke deutlich. Manchmal sei die Fächerwahl einfach auch nur eine rein strategische.

„Geschichte erschließt sich erst mit einer gewissen Reife“, ergänzt Peter Ströbel. „Das geht erst, wenn Zusammenhänge erkannt werden und vernetztes Denken möglich ist“. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus gehöre untrennbar zu Deutschland dazu. Es gebe eine Verpflichtung sich zu erinnern und den Auftrag, es besser zu machen. Frank Maus erzählt, dass jedes Jahr bei den Tagen der offenen Tür Ehemalige kommen, sich mit Begeisterung an die Geschichtswerkstatt erinnern und betonen, wie stark die Erfahrung ihre Haltung zur Geschichte und letztlich auch ihr Leben geprägt hat.

Das Buch wird am Freitag, 13. September, um 19 Uhr in der GSS präsentiert. Schon am Vortag, am Donnerstag, 12. September, um 18.30 Uhr verlegt die Geschichtswerkstatt vor dem heutigen Kaufhaus Ganz neun Stolpersteine, die an das Schicksal der Familie Jakoby/Schwabacher erinnern.

Das Kaufhaus Ganz im Jahr 1960. © Thomas Neu

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