Bergstraße. Seinen Namen möchte er partout nicht nennen und sein Gesicht will er schon gar nicht fotografieren lassen. Angeblich aus Angst vor Präsident Erdogan.
Der 25-jährige Mann beherrscht weder einen Satz in deutscher Sprache noch kann er auf Englisch antworten. Seine aufgewühlten Augen jedoch - die sprechen Bände: Gebt mir endlich das, was mir versprochen worden ist. Wohl erst langsam beginnt er zu ahnen, dass er einem Irrtum unterlegen ist.
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In Badelatschen und einem dünnen Shirt steht der aus der Türkei geflohene Mann bei einer Temperatur von drei Grad Celsius auf dem kleinen Bolzplatz vor der Zeltstadt, die im März 2022 am Berliner Ring am Rande von Bensheim aus dem Boden gestampft worden ist.
Kinder verfolgen sich auf Fahrrädern. Zwei Jungs posieren mit dem Victory-Zeichen aus Mittel- und Zeigefinger vor der Kamera unseres Fotografen. Gewinner sind sie nicht. Ein etwa Siebenjähriger kickt einen Ball vor sich her und versucht sich als Nachwuchs-Messi. Letzte Ausfahrt Fußballstar.
Flucht vor Taliban
Der Mann mit den Badelatschen, offenbar das Sprachrohr einer kleinen Gruppe mehrerer junger Männer, deutet auf die Container mit den Toiletten und den Duschen. Irgendetwas passt ihm nicht - kann jeder an seinem Gesichtsausdruck ablesen.
Eine Dolmetscherin, die hier als Security-Kraft beschäftigt ist, übersetzt für den zuständigen Kreisbeigeordneten Matthias Schimpf (Grüne), dass es dem Mann hier nicht sauber genug sei. Eine junge Frau, deren Heimat im türkisch-syrischen Erdbebengebiet liegt, beschwert sich über das Essen. Nicht schmackhaft genug. Hunderte Schüler im Kreis Bergstraße essen es jeden Tag. Es stammt vom selben Caterer.
Matthias Schimpf, bei dem in Sachen Unterbringung Geflüchteter alle Fäden zusammenlaufen, entgegnet, dass die Toiletten mehrmals am Tag gereinigt würden. Ein wenig Eigenverantwortung sei aber auch notwendig, um den Laden einigermaßen clean zu halten, sagt er. Er habe deshalb schon Flyer in allen möglichen Sprachen verteilen lassen. Beim Essen sei es so wie überall - den einen schmeckt’s, den anderen nicht.
Der 54-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass er den Kreis an der Grenze der Belastungsfähigkeit sieht. Während 330 Geflüchtete pro Zelt eng an eng auf Hochbetten Nachtruhe zu finden hoffen, tingelt Schimpfs oberster Dienstherr, Landrat Christian Engelhardt (CDU), in diesen Tagen durch fast alle relevanten Rundfunksender.
Die Botschaft für Angela Merkel: „Wir schaffen das - nicht mehr“. Engelhardt drückt deutlich aus, was andere sich bisher nicht zu sagen trauten - vielleicht aus Angst, in die falsche politische Ecke gestellt zu werden. Dann ist da aber auch noch die recht hohe Erwartungshaltung, mit der viele junge Männer aus Drittstaaten ankommen - aus der Türkei, Irak, Syrien, Iran und Afghanistan. Sie hoffen auf Haus, Auto - Wohlstand.
Quayum Seddiqi, ein 23-jähriger Afghane, sagt radebrechend auf Englisch: „Die Leute brauchen ein gutes Haus, um zu lernen und zu leben.“ Er hat sich deutlich mehr versprochen als das, was er in der Zeltstadt, in der er seit Monaten lebt, vorgefunden hat. Hat man ihm falsche Hoffnungen gemacht? Was er vorträgt, klingt jedenfalls nach Anklage und Wut.
Das Bild vom reichen Deutschland, das er im 6000 Kilometer entfernten Kabul vermittelt bekam, es will irgendwie nicht zu seiner Realität passen - kein Haus, kein Auto, kein Wohlstand. Ob er von sich aus versucht hat, ein paar Sätze in deutscher Sprache zu lernen, um das Land etwas besser zu verstehen? „Nein“, sagt er.
Ist es das, was Landrat Engelhardt meint, wenn er sagt: „Wir schaffen das nicht mehr“? Etwa 4000 Geflüchtete hat der Kreis im Jahr 2022 aufgenommen. Als Afghane hat Seddiqi eigentlich gute Chancen, dass sein Antrag auf Asyl positiv beschieden wird. „Wenn ich nach Afghanistan zurückkehre, kann es sein, dass mich die Taliban töten“, fürchtet der 23-Jährige. Aber wann beginnt seine Integration in Deutschland? Und was tut er selbst dafür? Ein Berufswunsch? Keine klare Antwort.
Gefühlt sind es die ersten Sonnenstrahlen des Jahres, die auf die blasse Haut der notdürftig untergebrachten Menschen treffen - meist dünne Körper, denen man auch die mentalen Strapazen ihrer jüngeren Vergangenheit ansieht. Weit über 700 Personen warten hier unter den riesigen weißen Kunststoffdächern auf eine ungewisse Zukunft.
Einige sind wie Quayum Seddiqi seit Monaten hier - und man sieht in ihren Gesichtern, dass sie nachts manchmal weinen. Wer als Beobachter empathisch ist, dem zerreißt es hier das Herz angesichts dieser Unmenge unerfüllter Träume und gescheiterter Lebensentwürfe. Die Menschen - sie verbringen hier eine bleierne Zeit. Jeder einzelne Tag zäh wie Juchtenleder.
Ukrainer haben Privilegien
Die größte Bedeutung gewinnt im Camp die schier endlose Anzahl an Handy-Steckdosen. „Alles stromverstärkt“, sagt Matthias Schimpf. Auch die WLAN-Leitung ächzt. Hier hat sich eine vom Schicksal gebeutelte Gesellschaft eingerichtet, die unter normalen Umständen nie zusammengefunden hätte - nicht ethnisch, nicht kulturell, nicht wirtschaftlich. Geflüchtete aus der Ukraine hat der Kreis getrennt untergebracht - etwa in Lindenfels. Aus nachvollziehbaren Gründen. Man wollte keinen Neid provozieren. Ukrainer sind rechtlich etwas besser gestellt. Sie sind beispielsweise krankenversichert.
Vor zwei Wochen brach sich in der Zeltstadt erstmals ein Konflikt Bahn. Ordnungskräfte mussten einschreiten. Was der Grund war, kann niemand richtig sagen. Wer im Umfeld der Zeltstadt eine erhöhte Anzahl von kleinen Verbrechen vermuten will, der muss seine Denke korrigieren. Einmal die Woche findet mit der Polizei eine Besprechung statt.
Ergebnis laut Schimpf: Keine Auffälligkeiten. Für etwa 50 Prozent der Menschen, die hier „hausen“, gibt es nach den Erfahrungen der Vergangenheit keine Chance auf Asyl. Wohl auch nicht für unseren Mann in Badelatschen. der wohl wegen der hohen Inflation aus seiner Heimat weggegangen ist. Wer hingegen nachweisen kann, dass er daheim politisch verfolgt wird, hat gute Aussichten.
Bis die abgelehnten Menschen in ihre Heimat abgeschoben werden, gehen dennoch oft Jahre ins Land, weiß Schimpf, der gerne mit der Integration derjenigen beginnen würde, die eine Bleibeperspektive haben. Er sagt: „Stattdessen behandeln wir alle gleich schlecht, weil wir nicht genügend Kapazitäten haben.“ Zwischen den Kreisbeigeordneten der Grünen und dem CDU-Landrat passt in dieser Frage kein Blatt Papier. Auf EU-Ebene müssten Probleme gelöst werden, sagen sie.
Wohnraum ist Mangelware
So lange zahlt der Kreis alleine für die Zeltstadt in Bensheim eine Million Euro im Monat, die die Bundesregierung zum allergrößten Teil zurückerstattet. 250 Plätze sind noch frei, aber für die kommende Zeit sind pro Woche jeweils 61 Neuankömmlinge angekündigt. Neben der Frage der Finanzierung heißt die größte Herausforderung:
„Wo können alle leben, wenn das Zelt nicht Dauerlösung sein soll? Selbst Geflüchtete, die 2015 kamen und anerkannt wurden, leben in Teilen bis heute in Gemeinschaftsunterkünften. Bezahlbarer Wohnraum ist an der Bergstraße wie andernorts Mangelware. Um das zu wissen, muss man nicht mal Geflüchteter sein.
In der Zeltstadt füllt gerade wieder ein Heizöllaster die Tanks auf. Ein gutes Geschäft für den Händler. Riesige Warmluftgebläse sorgen auch bei Minusgraden für bis zu 20 Grad in den Zelten. Hart frieren muss hier niemand. Viel härter ist die soziale Kälte. Gut möglich, dass sich die Diskussion in den kommenden Wochen verschärft.
Bisher hat es der Kreis Bergstraße vermieden, Geflüchtete auf die einzelnen Kommunen zu verteilen. Das soll sich jetzt ändern, hat Landrat Christian Engelhardt den Bürgermeistern mitgeteilt. Antwort: Keine Flächen, kein Wohnraum ... /ü
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