Lindenfels/Darmstadt. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ – das berühmte Zitat des griechischen Universalgelehrten Aristoteles hat sich am Freitag wie ein roter Faden durch die Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters Volker Wagner gezogen.
Seine Sätze markierten das Ende eines Prozesses am Landgericht in Darmstadt, der bundesweit Schlagzeilen machte: der Cold Case Jutta Hoffmann. Am Freitag verurteilte das Schwurgericht den 62-jährigen Angeklagten Peter F. wegen Mordes – 37 Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Jutta Hoffmann. Die Kammer verhängte eine lebenslange Haftstrafe.
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Am 29. Juni 1986 verschwand die 15-jährige Jutta Hoffmann auf einem Waldweg in ihrem Heimatort Lindenfels. Anderthalb Jahre später fand man dort ihre skelettierte Leiche.
Die Kammer sei überzeugt davon, dass der heute 62-Jährige Jutta Hoffmann am Nachmittag des 29. Juni 1986 zunächst tiefer in den Wald hinein zerrte, die 15-Jährige mit ihrem Gürtel strangulierte, vergewaltigte und schließlich mit einem Messer tötete, sagte der Vorsitzende Richter. „Es besteht nicht der Hauch eines Zweifels daran, dass sich dies so zugetragen hat“, sagte Wagner.
Hinweis um Hinweis habe sich während des Prozesses zusammengefügt. Jeder könne für sich auch anders gewertet werden, aber: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile.“ In der Zusammenschau ergebe sich ein konkreteres Bild.
Der Spaten blieb verschwunden
Und dann rekapitulierte Wagner Indiz um Indiz. Er begann mit den Spuren, die Rechtsmediziner am skelettierten Leichnam der Jugendlichen fanden: das durchgeschnittene Bikini-Unterteil, das eindeutig auf eine Sexualstraftat hindeute, das Blut am Kleid, der Gürtel, der in einer Doppelschlinge um einen Wirbelknochen lag – zu eng geschnürt, um ihn noch um die Taille tragen zu können. Zu weit, um jemanden damit zu töten.
Peter F. habe die tote Jugendliche nach der Tat vergraben. Das habe sich eindeutig aus dem rechtsmedizinischen Gutachten ergeben. In einer nahe gelegenen Hütte habe er Werkzeug gefunden. Der Spaten, mit dem er die Grube aushob, wurde nie gefunden, davon ist die Kammer überzeugt. Aber ein zweiter, den der Täter achtlos zu Boden warf, nachdem er die Hütte durchsucht hatte, so der Vorsitzende Richter.
Dieser Spaten gelangte irgendwann als Beweismittel zur Polizei. Und mehr als 30 Jahre nach dem gewaltsamen Tod an Jutta Hoffmann untersuchten Ermittler des Landeskriminalamts (LKA) die alten Beweismittel mithilfe neuer Technik.
Am Spaten fanden sie eine Hautschuppe, die sie zu Peter F. führte. Der befand sich im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus in Norddeutschland. Weil die LKA-Mitarbeiter wussten, dass die DNA-Spur allein nicht beweiskräftig genug war – tatsächlich spielte sie in der Argumentation des Gerichts kaum eine Rolle –, entschieden sie sich dazu, einen verdeckten Ermittler einzuschleusen, der sich als ehrenamtlicher Mitarbeiter eines Tierheims ausgab, in dem Peter F. regelmäßig einen Hund ausführte.
Die Vollstreckung ist ungewiss
Peter F. fasste Vertrauen zu „Mirko“, so der Deckname des Mannes. Beide gingen regelmäßig spazieren, trafen sich in dessen Strandhaus. Auch am 22. März 2023, wo „Mirko“ die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“ abspielte – und beobachtete, wie Peter F. nervös wurde, seine Hände knetete, während die Sendung um den Fall Hoffmann kreiste.
Ermittlerin Tanja Becker sprach über Spuren, die nach Norddeutschland führten, und lancierte einen Hinweis: „Es gibt eine Mitteilung darüber, dass der Name Peter eine Rolle spielen könnte“. „Wie reagiert ein Mensch, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hat?“, fragte Wagner.
„Mit Unverständnis.“ Peter F. aber habe ein großes Bedürfnis gehabt, sich zu erklären – auf manipulative Art und Weise. Diese sei bereits in seinen früheren Taten hervorstechend gewesen. In Gesprächen sprach er von einem Ort mit „L“, Peter F. habe vorgegeben, Lindenfels nicht zu kennen, dabei habe er kurz zuvor im Internet danach gesucht. Der Vorsitzende Richter machte eine ausladende Handbewegung: „Der große Manipulator.“
"Keine Zweifel an einem Messer als Tatwaffe"
Einem Pfleger gegenüber sprach F. über Details, die die Kammer als „Täterwissen“ wertete. So soll er etwa ein Messer als Tatwaffe benannt haben. „Schon vor der Aussage des Zeugen hatte der rechtsmedizinische Sachverständige geäußert, dass es keine Zweifel an einem Messer als Tatwaffe gebe“, sagte Wagner. Und dann wäre da noch die Hautschuppe. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile“, sagte der Vorsitzende Richter wieder. Aufgrund des „Ganzen“ verurteilte das Schwurgericht F. wegen Mordes.
„Auf Mord steht lebenslang“, sagte Wagner. Doch bis das Urteil rechtskräftig ist, bleibt Peter F. in dem psychiatrischen Krankenhaus in Norddeutschland, in dem er bis zu seiner Festnahme lebte. Mit der Rechtskraft des Urteils müssen die Strafvollstreckungsbehörden in Norddeutschland entscheiden, wie es für ihn weitergeht, da es 2012 ein Urteil des Landgerichts Kiel gab, das eine Unterbringung in der Klinik vorsah.
Grundlage dafür war ein psychiatrisches Gutachten, das stark von den Ausführungen des Sachverständigen im Fall Jutta Hoffmann abwich, der Peter F. für voll schuldfähig hielt. Daher müssen die Behörden entscheiden, ob die Unterbringung aufgehoben wird.
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