Heppenheim. Es ist ein traumhafter Sonntag. Am Bruchsee drängeln sich die Spaziergänger. Nicht weit davon entfernt haben Alina D. und Sascha V. (Namen sind der Redaktion bekannt) kein Auge für den Hauch von Frühling. Sie sind voller Sorge um Angehörige und Freunde in der Ukraine, verfolgen die Nachrichten, telefonieren.
Alinas 82-jährige Mutter, seit zwei Monaten aus dem ukrainischen Lwiw zu Besuch, liegt derweil im Heppenheimer Kreiskrankenhaus. Die Sorge um die Lieben daheim war zu viel. Am Freitagabend brach sie zusammen. „Es ist unfassbar. Im schlimmsten Albtraum konnten wir uns nicht vorstellen, was in der Ukraine passiert“, sagt Alina. Sascha kommt hinzu. Er hat gerade mit einem Freund telefoniert, ist betroffen und voller Sorge.
Alina ist 51 Jahre alt, Sascha 59. Beide wurden in der Ukraine geboren, haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit. Im September 2000 kamen sie nach Deutschland. Beide Söhne wurden in der Ukraine geboren, die jüngste Tochter kam in Deutschland zur Welt. Damals sei es schwierig gewesen in der Ukraine. Sascha ist Doktor der Geowissenschaften. Als Wissenschaftler habe man nur sehr schlecht verdient. Das Gehalt kam nur unregelmäßig. Nebenbei reparierte er Gitarren, um Geld zu verdienen. Alina ist eigentlich Dirigentin und Musiklehrerin. In Deutschland schulte sie zur Erzieherin um. Beide arbeiten in Heidelberg – er im geowissenschaftlichen Institut der Universität, sie bei der Kindertagesstätte des Studierendenwerkes. Seit 2006 wohnen sie in Heppenheim. Alinas Mutter kommt ursprünglich aus St. Petersburg. Ihr Vater war Pilot und wurde im Zweiten Weltkrieg abgeschossen. Der Stiefvater war Polizist, er wurde nach Lwiw versetzt. Alinas Großvater väterlicherseits wurde als Zahnarzt in die Ukraine geschickt. Sascha ist halb Russe, halb Ukrainer. „Russisch ist unsere Muttersprache, Ukrainisch sprechen wir genau so fließend, meine beste Freundin ist Ukrainerin. Es gibt viele ukrainisch-russische Ehen und Familien. Wir sind nicht zu trennen“, sagt Alina mit Überzeugung.
Er wolle die Russen in der Ukraine vor dem Genozid retten, die Ukraine entnazifizieren, hat Putin als Argument für den Einmarsch angebracht. Darüber schütteln beide fassungslos den Kopf: „Überall darf russisch gesprochen werden. Es gibt russische Kindergärten und Schulen. Alles wird akzeptiert. Präsident Selenskyi selbst kommt aus einer russischsprachigen jüdischen Familie.“ All das zeige, wie verlogen Putins Aussagen seien. Alina ist empört darüber: „Wen will er retten? Von unseren Freunden in der Ukraine sind viele Russen. Sie fühlen sich dort wohl“, erklärt sie. „Wie will er unterscheiden, wer jetzt getötet wird?“ Auch Sascha entlarvt die gesamte Perversität dieses Angriffskrieges: „Mein Bruder lebt mit der Familie in der Ukraine, meine Tante mit Familie auf der Krim, mein Onkel in St. Petersburg. Rein theoretisch kämpfen jetzt alle gegeneinander.“ Er fügt hinzu: „Die Menschen in der Ukraine wissen, dass nicht die Russen für den Krieg verantwortlich sind, sondern Putin.“ Auch Russen riefen in der Ukraine an und fragten, wie sie helfen können.
Geblieben, um zu helfen
Saschas Bruder – er ist körperbehindert – und dessen drei Kinder leben in Lwiw, 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Ein guter Freund, mit ihm hat Sascha gerade telefoniert, ist Pole und wohnt ebenfalls in Lwiw. Er könnte ausreisen, will aber die Freunde nicht im Stich lassen. Er hat zwei Familien in seinem Haus aufgenommen, eine davon kennt er gar nicht. Ein anderer Freund, 60 Jahre alt, wohnt in der Nähe des Kiewer Flughafens. Er ist aufs Land geflüchtet. Eigentlich wollte er weiter nach Polen, aber dann wären in dem Dorf nur noch Frauen und Kinder geblieben und ein 86-jähriger Mann. Er sei geblieben, um zu helfen. Andere Freunde wohnen nahe am Flughafen von Lwiw. Die beiden Wahl-Heppenheimer möchten sich nicht ausmalen, was passiert, wenn er bombardiert würde. Noch klappt der Kontakt in die Ukraine uneingeschränkt per Handy und Internet. Nie hätte das Ehepaar gedacht, dass Putin die gesamte Ukraine von allen Seiten angreift. Verwandte und Freunde in der Ukraine seien froh, dass die EU, dass Deutschland hilft. „Allein die Tatsache, dass alle auf der Seite der Ukraine stehen und Putin als Aggressor sehen, hilft schon“, so Alina.
Wie geht es weiter in der Ukraine? „Putin dachte, binnen von zwei Tagen hat er die Ukraine erobert und alle heißen ihn willkommen. Aber das hat nicht geklappt. Er ist gefährlich. Er kann und wird nicht mehr stoppen“, befürchten beide. In Russland sei es unmöglich, über die offiziellen Medien objektive Informationen zur aktuellen Lage zu bekommen, das stellen beide beim Blick auf die russischen Internetseiten fest. Selenskyi schätzen beide sehr: „Alle unsere Bekannten haben ihn gewählt. Gerade weil er von Haus aus kein Politiker ist.“
Sollten Verwandte und Freunde aus der Ukraine nach Deutschland flüchten, „stehen unsere Türen für alle offen“, sagen sie. „Das wissen alle. Alle sitzen auf gepackten Koffern, haben die wichtigsten Papiere und Geld bei sich und die Autos vollgetankt.“ Nun gilt es, allerlei zu organisieren. Alinas Mutter ist im Krankenhaus, die Auslandskrankenversicherung mittlerweile ausgelaufen. Ihr Visum läuft ab und der bereits gebuchte Rückflug wurde von der Lufthansa am Freitag gecancelt – nicht wegen des Krieges, sondern wegen Corona. So steht es in einer E-Mail der Fluggesellschaft. Aber Alina und Sascha wollen die Oma ihrer Kinder sowieso nicht mehr zurück in die Ukraine lassen. Nun hoffen sie erst einmal, dass sie sich schnell wieder erholt. rid/ü
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