Bensheim. Die Sage der Fraa vun Bensem in einem Satz erzählt lautet: Sie soll im Dreißigjährigen Krieg den bayrischen Truppen einen Geheimweg in die Stadt gewiesen haben, als diese am 2. Dezember 1644 in die Stadt eindrangen und die französischen und schwedischen Truppen, die Bensheim am 20. November 1644 erobert hatten, vertrieben. Doch so nüchtern wird die Geschichte selten erzählt und letztlich hat wohl jeder Bensheimer seine eigene Version um die seit 1935 als Brunnenfigur am Platz der alten Stadtmühle verewigte Gestalt.
Als wohl beliebteste Zugnummer fährt die „Fraa vun Bensem“ leibhaftig hoch oben auf ihrem Brunnen sogar beim Winzerfestumzug mit. Jedermann kann ihr dabei zuprosten, doch ins Gespräch mit ihr kommt man in dieser Situation schlecht. Wir nutzten die Gelegenheit einer persönlichen Begegnung, um die Fraa vun Bensem all das zu fragen, was uns auf den Nägeln brennt – und sie verriet uns einiges, was von den Historikern bislang verschwiegen wurde.
Liebe Fraa vun Bensem, ich möchte erstmal fragen, ob du damit einverstanden bist, wenn ich dich duze. Du bist ja nicht von hohem Stand und wir können vertraulich miteinander reden, oder?
Fraa vun Bensem: Offen gesagt, möchte ich doch auf der respektvollen Anrede bestehen. Denn ich bin ja keine einfache Frau aus dem Volk. Wie sonst hätte ich Zugang zu den Stadtschlüsseln haben können, die im Rathaus verwahrt wurden. Mehr über meine Identität zu verraten ist hier aber nicht von Belang …
Verzeiht! Euer schmuckloses, braunes Gewand hat mich da offenbar auf die falsche Fährte geführt. So sieht man Euch als Brunnenfigur des Bildhauers Tilman Zobel und das ist wohl nicht mehr zu ändern. Aber könntet Ihr Euch nicht vorstellen, wenigstens beim Winzerfestzug mal mit etwas Schickerem mitzufahren?
Fraa vun Bensem: Ach, das wäre nicht schlecht. Früher gab es zwar gar nicht so viele farbige Textilien wie heute, aber gerade als eher vornehme Frau hatte ich natürlich schon ein paar schöne Kleider. Und vor allem die Kinder fragen mich heute immer wieder, ob ich nicht mal was anderes anziehen möchte. Es gab sogar mal eine Schaufensterausstellung mit Kostümen, die Kinder für mich entworfen hatten. Da war auch ein Tiger-Bikini dabei! Aber das geht natürlich nicht – wenn ich anders angezogen wäre, würde mich ja niemand mehr erkennen.
Das stimmt, so ein Image wird man nur schwer los. Der Bildhauer hat Euch noch dazu ein ausladendes Kinn verpasst. Und Ihr hattet schon zuvor sozusagen schlechte Presse durch den Heimatforscher Josef Stoll. Der hat Euch schon 1924 total verzerrt beschrieben: als hässliche, alte und bucklige Verräterin. Wie geht Ihr mit solchen Fake News um?
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Fraa vun Bensem: Ach naja, da stehe ich drüber, wie die meisten Prominenten heute auch, die von gehässigen Paparazzi verfolgt werden.
Kommen wir zu Eurer Tat vom Dezember 1644. Was hattet Ihr denn gegen die französischen und schwedischen Truppen, die da ja schon seit zwei Wochen Bensheim besetzt gehalten hatten? Besatzer sind doch letztlich Besatzer, egal von welcher fremden Macht, oder?
Fraa vun Bensem: So kann man das wirklich nicht sagen. Die Franzosen und Schweden haben übel gehaust, sie haben Häuser in Brand gesetzt und abgerissen, haben gemordet und geplündert. Das war entsetzlich, dem wollte ich ein Ende machen. Die Bayern waren ja nicht zum ersten Mal in Bensheim und mir also bekannt – und ich hoffte, dass sie der Stadt weniger schaden würden.
Wie habt Ihr denn Kontakt mit den Bayern aufgenommen? Die lagen doch mit vier Kanonen am damals noch unbebauten Griesel, außerhalb der Stadt – hattet Ihr keine Angst, die Stadtmauern zu verlassen? Mit Frauen sind die Soldaten doch sicher nicht zimperlich umgegangen.
Fraa vun Bensem: Nun ja, es gab gewisse Verbindungen, da die Bayern ja schon dagewesen waren. Und es ist zwar lang her, aber ich kann mich nicht erinnern, Angst gehabt zu haben. Ich war nur sauer und wollte was ändern.
Habt Ihr den Bayern nur den Weg verraten, oder seid Ihr selbst mit durch den Mühlgraben?
Fraa vun Bensem: Oh ja, ich bin natürlich mit der Laterne in der Hand selbst mitgegangen. Und der Weg führte nicht, wie manche behaupten, von der Schönberger Seite aus durch die Lauter. Der Weg, den ich gewiesen habe, führte auf der Ostseite der Mittelbrücke durch einen Kanal des Mühlgrabens unter der Stadtmauer hindurch, den hat es sogar bis vor einigen Jahren noch gegeben. Die Stadtmauer war da, wo später die Südseite der Erbacher Straße gebaut wurde. Ungefähr am Ort des heutigen Platzes der Fraa vun Bensem sind wir dann rausgekommen. Und von da durch eine sehr schmale Gasse hoch vor die Kirche, wo dann das große Blutbad mit den vielen Toten stattfand.
Angeblich musstet Ihr dann fliehen, weil die Bensheimer so erbost waren, dass Euch die Todesstrafe erwartete. Wo seid Ihr hin?
Fraa vun Bensem: Ach, das hat der Josef Stoll so erzählt. Und ja, die Bayern waren mit den Bensheimern auch nicht zimperlich und haben geplündert und gebrandschatzt. So war das damals im Krieg – und so ist es doch oft genug heute noch. Ich glaube aber, mir waren viele Bürger dankbar, weil ich nach dem ganzen konfessionellen Hin- und Her wieder Katholiken an die Macht gebracht habe.
Wie begeistert die damaligen Bensheimer von Euch waren, lässt sich leider nicht mehr überprüfen. Aber was sind denn Eure aktuellen Erfahrungen?
Fraa vun Bensem: Das ist eine interessante Frage. Noch vor ungefähr 40 Jahren sind mir einige wenige Bensheimer etwas feindselig begegnet: „Du hast Bensheim verraten“. Das ist heute nicht mehr so. Die Fraa vun Bensem ist zur durchweg positiven Figur geworden und alle freuen sich und winken ohne Berührungsängste, wenn sie mich sehen.
Zum ersten Mal aufgeschrieben hat Eure Geschichte wohl der Heimatforscher Josef Heckler um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Davor hattet Ihr fast 200 Jahre lang völlig im Dunkeln gelebt. Was habt Ihr eigentlich die ganze Zeit gemacht?
Fraa vun Bensem: Ich habe versucht, weiter über Bensheim zu wachen, letztlich bis zu meinem großen Auftritt im Jahr 1954, als ich lebendig wurde und das erste Mal beim Winzerfestzug mitgelaufen bin. Ich habe einfach auf den Moment gewartet, in dem ich benötigt wurde. Vielleicht brauchen die Leute jetzt eine Art Personifikation ihrer Stadt, dachte ich damals, und vielleicht brauchen sogar die vielen neuen Bensheimer, die als Geflüchtete hierhergekommen sind, mich noch mehr als die Kernbürger. Jedenfalls bin ich seitdem jedes Jahr beim Winzerfest dabei gewesen.
Ihr seid ja nicht nur beim Winzerfest gefragt als Symbolfigur und Rednerin, sondern auch bei allerlei anderen Aktivitäten rund ums Jahr.
Fraa vun Bensem: Das stimmt. Meine – rein ehrenamtliche – Funktion sehe ich als „lebendig gewordene Stadtgeschichte“. Auf Anfrage gehe ich gern in Schulen und Kindergärten und erzähle den Kindern von früher. Manchmal bin ich auch auswärts, besuche Partnerstädte oder die Bundesgartenschau oder habe auch schon mal einen Auftritt beim Hessischen Rundfunk.
Als Frau des 17. Jahrhunderts musstet Ihr Euch im Lauf der Jahrhunderte ja an einiges Neues gewöhnen. Was ist Euch dabei am schwersten gefallen – und was am leichtesten?
Fraa vun Bensem: Also, am schönsten finde ich, dass heute das warme Wasser einfach so aus der Wand kommt. Und dass das saubere Wasser jederzeit ohne Bedenken getrunken werden kann. Toll ist auch, dass die Straßen schön befestigt und nicht so verschlammt sind wie früher. Man kommt als Fußgänger viel besser voran. Schlimm finde ich die Hektik, die überall herrscht und die vielen, vielen Informationen, die heute auf alle einströmen und kaum zu verarbeiten sind.
Eine letzte Frage: Was ist das eigentlich für eine Katze, die Ihr immer bei Euch habt?
Fraa vun Bensem: Ganz ehrlich, die Katze hat bis heute keinen Namen und sie ist erst bei mir, seit der Bildhauer Zobel fand, sie passe gut zu mir, als Sinnbild einer Wächterin des Heimes, oder so ähnlich.
Für das Interview danken wir Doris Walter, die seit mehr als 40 Jahren der Fraa vun Bensem ein Gesicht und - so auch in diesem Interview - ihre Stimme verleiht.
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