„Hinnerum wie die Fraa vun Bensem“

Wer zu Fuß geht, der kann viel erleben und nicht nur nette Mitmenschen zum Plausch treffen, sondern an allen Ecken auch (meist) steinerne Zeugen vergangener Zeiten.

Von 
Eva Bambach
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Der Brunnen mit der Keramikfigur der Fraa vun Bensem, gestaltet von Tilman Zobel, prägt die Vorstellung der Bensheimer von dieser Sagengestalt bis heute. © Bambach

Bensheim. In einer kleinen Grünanlage mit Brunnen neben dem Gasthaus „Zur Stadtmühle“ findet sich eines der Wahrzeichen von Bensheim. Dort oben auf dem Brunnen steht die „Fraa vun Bensem“ mit Katze, langem Kleid, Schlüsseln und Laterne. So schmückt sie aktuell auch einige von der städtischen Tourist-Information angebotene Souvenirs. Denn die Gestaltung auf diesen Badetüchern, Tassen, Gläsern und Flaschen orientiert sich eng an der auf dem Brunnenstock installierten Figur. Als leibhaftige und wohl beliebteste Zugnummer fährt die „Fraa vun Bensem“ auf ihrem Brunnen seit den 1950er Jahren sogar beim Winzerfestumzug mit.

Die Figur stammt wie der Brunnen selbst und wie die Grünanlage aus dem Jahr 1935. Damals wurde an Stelle der um 1910 abgebrochenen Stadtmühle eine kleine Parkanlage angelegt, mit dem noch heute existierenden Brunnen in der Mitte. An dieser Stelle sollen der Sage nach die von einer Bensheimer Frau geführten Bayern 1644 in die Stadt eingedrungen sein.

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Platz und Brunnen gingen auf die Initiative von Joseph Stoll zurück, Gewerbelehrer, Gründer der Bensheimer Heimatvereinigung Oald Bensem und der Bensheimer Bürgerwehr und seit der Übernahme der Stadtverwaltung durch die Nationalsozialisten als Beigeordneter zuständig für das Verkehrs-, Bau- und Kulturwesen in Bensheim. Stoll war zumindest in den ersten Jahren nach 1933 ein begeisterter Nationalsozialist. Seine schon lang zuvor unterhaltenen und bekannten Aktivitäten zur Heimatpflege brachte er dabei auch für die entsprechende Propaganda ein.

Brunnenschale und Brunnenstock wurden 1935 aus Ziegelsteinen gemauert und mit der Figur der „Fraa vun Bensem“ bekrönt, die nach einem Entwurf des Auerbacher Bildhauers Tilmann Zobel von der Mannheim-Friedrichsfelder Steinzeugfabrik in Keramik hergestellt worden war. Die Wasserspeier an den vier Seiten des Brunnenstocks sind als männliche Köpfe gestaltet. Es sind zwei jeweils identische Paare mit sorgen- oder schmerzvoll verzerrtem Gesicht, die durch ihre Kopfbedeckung als Landsknechte charakterisiert werden und auf den historischen Zusammenhang der Sage mit dem Dreißigjährigen Krieg hinweisen.

Als Landsknechte gestaltete Wasserspeier am Brunnen verweisen auf den Dreißigjährigen Krieg als Schauplatz der Sage. © Eva Bambach

Den Figuren zugrunde liegt eine Bensheimer Erzählung, die von Stoll aufgegriffen wurde, aber schon viel länger kursierte. Der frühe Bensheimer Heimatforscher Joseph Heckler erzählte die Geschichte in seinem 1852 erschienenen „Beitrag zur Geschichte der Stadt Bensheim“ als sei sie wahr gewesen: Im Jahre 1644, als die Stadt von Schweden und Franzosen besetzt gewesen sei, habe eine Bensheimerin den die Stadt belagernden Bayern verraten, „dass man ohne Schwierigkeit durch den Mühlgraben, unter einem ziemlich langen Hausgewölbe in die Stadt kommen könne“.

Diesen Weg hätten die Bayern gewählt und seien dann durch ein – heute nicht mehr zu sehendes – enges Gässchen entlang des Steinerhofes (in dem sich heute das Museum befindet) an die Kirche gelangt, wo zwischen Bayern und Franzosen „ein großes Blutbad stattfand“.

Die schon während des 18. Jahrhunderts verfasste Blesingersche Hauschronik erzählt diese Geschichte allerdings viel lapidarer und inhaltlich noch ganz anders: „Hernach ist der bayerische Einfall geschehen mit stürmender Hand.“ Diese Formulierung lässt nichts von einer List vermuten. Die Sage der „Fraa vun Bensem“ entsprang wohl erst dem 19. Jahrhundert und wurde seitdem weitererzählt.

„Sie kimmt net in Vergessenheit“

Joseph Stoll war aber derjenige, der der Figur zu der noch heute wirksamen Prominenz verhalf. In einem in den „Bensheimer Geschichtsblättern“ 1924 veröffentlichten Gedicht prophezeit er schon, dass „wann es (Bensheim) goar mol Groußstadft is, Stellt mer e Denkmol ehr gewiß, Doch vor de Hann hot des noch Zeit, Sie kimmt net in Vergessenheit“.

1910 entstand durch den Abriss der Stadtmühle zwischen Lauter und Marktplatz eine kleine Freifläche, die 1935 als Grünanlage gestaltet wurde. Ungefähr an dieser Stelle, so heißt es, sollen die Bayern unterirdisch in die Stadt eingedrungen sein. © Bambach

Im Gedicht schildert Stoll ausführlich ihre Tat und lässt keinen Zweifel: der Frau damals „war Bensem ganz verflucht egal“. Die Fraa vun Bensem ist also beileibe keine Lichtgestalt – das kommt auch in der grotesken Brunnenfigur zum Ausdruck. Stoll schildert sie im Gedicht als bucklig – und am Ende flieht sie, um der Todesstrafe für das Unheil, dass sie über die Stadt gebracht hat, zu entgehen: „So kimmt’s aach, daß se unbekannt gebliwe is“. Noch heute fest in den Köpfen der Bensheimer verankert ist die Redewendung „Hinnerum wie die Fraa vun Bensem“. „So hinnerum, so hinnerum“ wird nicht zuletzt in Stolls Gedicht refrainartig wiederholt.

Als Zuspätkommer gehänselt

Bemerkenswert ist, dass der Dichter Ernst Niebergall in seinem 1837 erschienenen Lustspiel „Der tolle Hund“ scheinbar schon diese Redewendung verwendet „Der kimmt hinneher, wie die Frah vun Bensem“. Es klingt aber nur im ersten Moment wie ein Beweis, dass die Sage schon damals im südhessischen Raum bekannt gewesen sei. Denn im Theaterstück heißt es eben nicht „hinnerum“, sondern „hinneher“ und gemeint ist dort jemand, der zu spät gekommen war.

Und mit eben diesem Zuspätkommen wurden die Bensheimer seit Jahrhunderten gehänselt. Schon ein Dokument aus dem Jahr 1568 berichtet von einer rechtlichen Auseinandersetzung, bei der es um die entsprechende Beleidigung aller Bensheimer durch einen Heppenheimer Bürger ging. Ob mit der „Frah vun Bensem“ des Theaterstücks die Sagengestalt gemeint war oder nicht, ist kaum zu beantworten.

Eine Überlegung wert ist aber der Kontext, in dem die Sage auftaucht. Es geht historisch um den Dreißigjährigen Krieg. Millionen von Menschen hatten in diesem Krieg ihr Leben verloren, mehr als die Hälfte der Gebäude war zerstört, das Land verwüstet. Noch heute gilt der Dreißigjährige Krieg als kollektives Trauma.

Deutscher Freiheitskampf

Doch interessanterweise war der Krieg im 18. Jahrhundert fast vergessen und kam erst Ende des 18. Jahrhunderts – unter anderem mit den Werken Friedrich Schillers – in der Deutung als deutscher Freiheitskampf in den Blick. Mit der Idee des deutschen Nationalstaats wurde der Westfälische Friede zum „Schandfrieden“ und zum Beleg für die Ohnmacht und die Leiden Deutschlands: Nie mehr sollten ausländische Heere das deutsche Vaterland verwüsten! Die Preußen machten den Dreißigjährigen Krieg zum Motiv ihres Aufstiegs zur europäischen Großmacht.

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Die preußisch-deutsche Erzählung vom Dreißigjährigen Krieg, der die alte Kultur einer großen deutschen Nation verwüstete, wurde zum wichtigen Bezugspunkt des Bismarckreiches. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem „Friedensdiktat“ von Versailles gab es neue Vergleiche mit dem Dreißigjährigen Krieg als Ausgangspunkt deutscher Zwietracht und Demütigung. Für Bensheim jedenfalls bedenkenswert: 1933 wurde der gesamte Festzug zum Winzerfest dem Dreißigjährigen Krieg gewidmet.

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