Bensheim. 360 Frauen. So viele wurden 2023 in Deutschland getötet, 68,6 Prozent dieser Delikte werden einer Statistik des Bundeskriminalamtes zufolge dem Bereich der häuslichen Gewalt zugeordnet. Das bedeutet, dass die meisten Mädchen und Frauen durch innerfamiliäre Gewalt oder Partnerschaftsgewalt getötet werden. Von häuslicher Gewalt waren im Berichtszeitraum 180.715 weibliche Opfer betroffen, das ist eine Zunahme von 5,6 Prozent im Vergleich zum Jahr 2022.
Nicht jede Frau schafft es, der Gewaltspirale zu entkommen, geschweige denn Schutz in einem Frauenhaus zu finden. „Aus einem Bericht des Frauenhauses in Bensheim gehen erschreckende Zahlen bezüglich Absagen von Frauen mit und ohne Kinder, die nach einem Platz im Frauenhaus nachfragen, hervor. 2023 waren es Absagen an 112 Frauen mit 135 Kindern, die nicht im Frauenhaus aufgenommen werden konnten. Es muss davon ausgegangen werden, dass von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder in der Gewaltsituation verbleiben müssen. Ein unhaltbarer Zustand. Bedruckte Brötchentüten und Plakate reichen nicht“, stellte Ulrike Vogt-Saggau (BfB) auf der vergangenen Stadtverordnetenversammlung klar.
Die Fraktionen BfB und VuA hatten einen gemeinsamen Antrag eingereicht, der forderte, einen bestimmten Anteil an Sozialwohnungen an Frauen aus dem Frauenhaus Bergstraße zu vermieten. Konkret sollte es an dieser Stelle um zehn Wohnungen auf dem Areal des Meerbach-Sportplatzes gehen. Schon einmal hatte die BfB einen solchen Antrag gestellt, damals ging es um die geplante Wohnbebauung am Mozenrechweg. Doch beide Anträge fanden keine Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung. Während die einen die Sozialwohnraum-berechtigten Gruppen mit einer solchen Praxis gegeneinander ausgespielt sehen, sehen die Antragstellerinnen und -steller die Stadt in der Pflicht, betroffenen Frauen und ihren Kindern zu helfen. Angefangen bei der Bebauung am Meerbach-Sportplatz, möglicherweise aber ausgedehnt auf das gesamte Stadtgebiet.
„Lassen bei diesem Thema nicht locker“
„Wir lassen bei diesem Thema nicht locker. In unseren Augen ist es nicht genug, einzelne Aktionen an bestimmten Tagen zu starten. Ja, sie sind wichtig, um die Menschen zu sensibilisieren. Aber sie lindern nicht das Leid der Betroffenen“, führte Vogt-Saggau weiter aus. Alleinerziehende Frauen haben es besonders schwer auf dem Wohnungsmarkt - vor allem, wenn sie dazu noch das „Stigma“ tragen, aus dem Frauenhaus zu kommen. Bevorzugt würden meist Paare oder Singles ohne Kinder. „Diese Frauen brauchen zusätzliche Hilfe, um wieder ein normales Leben führen zu können.“ Dabei ging es den antragstellenden Fraktionen nicht darum, anderen Menschen, denen ebenso eine Sozialwohnung zusteht, dieses Recht abzusprechen. Allerdings geht es bei Frauen und Kindern, die in Gewaltbeziehungen leben, im Extremfall um deren Leben.
„Wir sehen an dieser Stelle einen dringenden Handlungsbedarf. Mit unserem Antrag möchten wir der Überbelegung des Frauenhauses entgegenwirken und einen wichtigen Beitrag zur Integration der Frauen in die Gesellschaft leisten. Es geht um ihre Würde - und deswegen sollten wir einen Weg finden“, ergänzte Rolf Kahnt (VuA).
Zu wenig Plätze in den Frauenhäusern
Die CDU hingegen verspricht sich keinen großen Nutzen von diesem Vorstoß und sieht bei der Schaffung von mehr Plätzen in Frauenhäusern den Kreis Bergstraße in der Pflicht. Viele Menschen hätten einen Anspruch auf eine Sozialwohnung, die Warteliste sei auch in Bensheim nicht unerheblich lang. Rudolf Volprecht (CDU) sprach von einem Ungleichgewicht, das eintreten würde, würden Frauen aus dem Frauenhaus bei der Vergabe bevorzugt. Weiter machte er sich Sorgen, Ex-Partner könnten durch die zentrale Unterbringung der Frauen schneller „auf der Matte stehen“. „Wie viele betroffene Frauen an einem Ort leben, ist diesbezüglich egal“, entgegnete Bürgermeisterin Christine Klein unmittelbar darauf.
Auch die Grünen stimmten gegen den Antrag: „Es ist traurig, dass es überhaupt Frauenhäuser geben muss, ein Ausbau an Plätzen ist absolut nötig. Was aber die Vergabe von Wohnraum angeht, so vertrauen wir darauf, dass die Stadt bereits jetzt genau prüft, welche Personen dringend untergebracht werden müssen“, begründete Doris Sterzelmaier. Kurzfristig könne man mit einer solchen Nutzungsbindung zwar ein paar Frauen helfen, warf Thorsten Eschborn (FDP) ein. Das löse aber nicht das grundsätzliche Problem, dass die Anzahl an Plätzen in Frauenhäusern zu gering sei - während die Zahl an Gewalttaten gegen Frauen jährlich steigt. Michael Sydow sorgte sich unterdessen um die Anonymität der Frauen. „Nur wenn sie gewahrt bleibt, können Betroffene Sicherheit erfahren.“
„Betroffene Frauen wollen nicht ihr Leben lang anonym bleiben“
Dieser Einwand veranlasste die Bürgermeisterin - sie war rund 19 Jahre die Vorstandsvorsitzende des Vereins Frauenhaus Bergstraße - dazu, einzulenken. „Jede dritte Frau ist von häuslicher Gewalt betroffen – und häufig tragen auch Kinder Leid davon. Im Frauenhaus finden sie Schutz und eine vorübergehende Zuflucht. Im Bergsträßer Frauenhaus gibt es auch nach der Sanierung nur elf Zimmer, in denen die Frauen und ihre Kinder untergebracht werden können. Nachdem sie es geschafft haben, der Gewalt zu entkommen, wartet aber die nächste Herausforderung auf sie: die Wohnungssuche. Gewalt gegen Frauen zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Während aber finanziell besser gestellte Frauen die Möglichkeit haben, sich selbst aus ihrer Lage zu befreien, sieht es bei jenen, die finanziell abhängig sind - auch häufig vom Ex-Partner - ganz anders aus. Manche Frauen verbringen bis zu zwei Jahre im Frauenhaus, weil sie wegen der Vorurteile gegen sie keine Wohnung finden.“
Im Schnitt dauere es rund acht Jahre, bis eine von Gewalt betroffene Frau dies überhaupt äußere. „Wenn diese Frauen bereit sind, die Anonymität des Frauenhauses zu verlassen und in eine eigene Wohnung zu ziehen, dann brauchen sie dabei Unterstützung. Wir dürfen nicht zulassen, dass Frauen aus Mangel an Alternativen in gewaltvolle Verhältnisse zurückkehren müssen. Dabei stehen auch wir als Stadt in der Verantwortung, Frauen und ihre Kinder in dieser Situation zu unterstützen. Es muss sichergestellt werden, dass sie eine echte Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, das eben nicht anonym und am Rande der Gesellschaft stattfindet, haben.“ Klein unterstützt den Grundgedanken des Antrages.
Die Ursache für die Notwendigkeit von Frauenhäusern: Männer
„Was ist denn die Ursache dafür, dass so viele Frauen Schutz in Frauenhäusern suchen müssen?“, fragte Rolf Tiemann (FWG) rhetorisch. Gleich mehrere - großteils weibliche - Stadtverordnete kannten die Antwort: gewalttätige Männer. „Wir nehmen unser Grundgesetz nicht ernst genug, auf Täter wird nicht genügend Druck ausgeübt.“ Dem gab die Bürgermeisterin recht. Es brauche eine verbesserte Gewaltprävention. An dieser Stelle kritisierte sie, dass der Kreis Bergstraße hierzu keine eigenen Mittel aufwende. „Dabei ist es essenziell, dass Kinder in einer gewaltfreien Umgebung aufwachsen. Wenn Jungen lernen, Konflikte mit Gewalt zu lösen, und Mädchen, sich kleinzumachen, dann werden diese Strukturen immer weiter bestehen.“ Trotz vieler Argumente dafür fand der Antrag an diesem Abend keine Mehrheit. Lediglich BfB, VuA und Adriana Filippone (SPD) stimmten dafür, dagegen 34 Abgeordnete, es gab eine Enthaltung.
Zahlen und Hilfsangebote für Betroffene
Laut dem Bundeslagebild „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023“ des Bundeskriminalamts (BKA) ist die Gewalt gegen Frauen in Deutschland in nahezu allen Bereichen gestiegen.
- Häusliche Gewalt: Im Jahr 2023 wurden 180.715 weibliche Opfer häuslicher Gewalt erfasst, was einem Anstieg von 5,6 % gegenüber dem Vorjahr entspricht.
- Sexualstraftaten: 52.330 Frauen und Mädchen wurden Opfer von Sexualstraftaten, ein Plus von 6,2 % im Vergleich zu 2022. Über die Hälfte dieser Opfer war unter 18 Jahre alt.
- Digitale Gewalt: Die Zahl der von digitaler Gewalt betroffenen Frauen stieg um 25 % auf 17.193 Fälle.
- Tötungsdelikte (Femizide): Im Jahr 2023 wurden 938 Frauen Opfer von Tötungsdelikten aufgrund ihres Geschlechts, wobei 360 Frauen ihr Leben verloren.
- Mit 70,5 Prozent sind die weit überwiegende Zahl der Opfer häuslicher Gewalt Frauen und Mädchen. Im Berichtsjahr stieg die Zahl der weiblichen Opfer um 5,6 Prozent auf 180.715 an (2022: 171.076). Die häusliche Gewalt gliedert sich in Partnerschaftsgewalt und innerfamiliäre Gewalt. Bei Partnerschaftsgewalt sind mit 79,2 Prozent mehr weibliche Opfer betroffen als bei innerfamiliärer Gewalt (54,0 Prozent Frauen und Mädchen).
Auf der Webseite der Stadt Bensheim gibt es eine Reihe an aufgelisteten Hilfs- und Beratungsangeboten für von Gewalt betroffener Frauen, dorthin gelangt man über diesen Link: https://bensheim.de/leben-in-bensheim/soziales-integration/frauenburo/
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