Bergstraße. Edith Stier-Thompson hat ein Ehrenamt, das man strikt von seinem Alltag trennen muss und nicht mit nach Hause nehmen darf. Seit Juli letzten Jahres leitet sie die Außenstelle Hessen-Süd des Weissen Rings, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität und Gewalt. Der Beratungsbedarf sei hoch, das habe sie direkt zu Anfang festgestellt, wie sie erzählt. Obwohl Betroffene häufig Frauen seien, setze sich der Weisse Ring für Kriminalitätsopfer im Allgemeinen ein.
Treffen würden meist im Zuhause der Betroffenen stattfinden. Sollte dies die Situation der Person aber nicht zulassen, treffe man sich auch an neutralen Orten, wie beispielsweise in Cafès. Auch die Diakonie in der Bensheimer Riedstraße stelle einen Raum für Gespräche dieser Art zur Verfügung. Anfragen würde der Weisse Ring nicht immer von Direkt-Betroffenen, sondern auch von Organisationen, die Bedarf bei einer Person sehen würden, erhalten.
Für ein Erstberatungsgespräch bei einem Rechtsanwalt, das die Rechtssituation klären soll, stelle der Weisse Ring Opfern auf Antrag einen sogenannten Hilfescheck aus. Ein bestimmter Anwalt werde nicht vorgegeben, diesen würden Betroffene selbst anhand einer Liste auswählen, die die Hilfsorganisation ihnen zur Verfügung stelle.
Opfer werden nach der Meldung auf ihrem Weg eng begleitet
Auch ein Beratungsscheck für eine psychologische Erstberatung sowie, im Falle einer Vergewaltigung, für eine ärztliche Untersuchung könnten sofort ausgestellt werden. „Wir können da viel tun und beantragen, beispielsweise bei häuslicher Gewalt auch einen Austausch des Schlosses veranlassen“, merkt sie an.
Die Gerichtsbegleitung mit Betroffenen und der Gang zur Polizei zähle ebenso zu den Tätigkeiten der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Verfügen Hilfesuchende nicht über Deutschkenntnisse, würden sie auch für diese sprechen. „Wir helfen, wo wir können“, so Stier-Thompson.
Bei Fällen, die Kinder oder Jugendliche betreffen, müsse eine erwachsene Person des Vertrauens im Gespräch anwesend sein. Diese dürfe auch stellvertretend für das Kind oder den Jugendlichen sprechen, damit dieser nicht am Gespräch teilnehmen muss. „Das Gesagte von Betroffenen stellen wir nicht in Frage“, verdeutlicht Stier-Thompson. In manchen Fällen müssten Gespräche nach der Dokumentation auch von den beteiligten Parteien unterschrieben werden.
„Ich hatte immer einen stressigen Berufsalltag, habe gependelt und mir immer gesagt, wenn ich nicht mehr arbeite, möchte ich ein Ehrenamt übernehmen“, erklärt sie. In den sozialen Netzen habe sie eine Anzeige des Weissen Rings gesehen und sei daraufhin mit dem Durchlaufen der Ausbildung eingestiegen – zunächst im Bereich der Online-Beratung mit anonymen Anfragen. „Anonym gehen die Menschen häufig noch mehr ins Detail, da liest man schon heftige Dinge“, berichtet sie.
Als Leiterin arbeitet sie hauptsächlich in der Koordination
Im Laufe der Tätigkeit interessierte sie sich immer mehr für die Aufgaben der Außenstelle. Nachdem sie daran Gefallen fand, wurde sie nach der Übernahme der Leitung gefragt und stimmte zu.
Daraufhin musste sie die Grundausbildung, die sie für die Online-Beratung durchlief, für den Posten der Leiterin erneut absolvieren, sowie ein Aufbauseminar und eine zusätzliche Weiterbildung.
Ihre Tätigkeit als Außenstellenleiterin ist weitestgehend koordinativ, bei ihr laufe alles zusammen. Sie kümmere sich um das Haupttelefon und den Maileingang. „Gerade am Telefon muss man sich langsam rantasten und behutsam sein. Manche sagen gar nichts oder weinen, manche erzählen direkt darauf los, es ist immer anders“, erklärt sie.
Der Weisse Ring verweise Hilfesuchende auch an andere Organisationen oder Hilfsangebote, wie beispielsweise „Pro Familia“ und agiert somit „als Lotse im Hilfesystem“.
Mit dem Ehrenamt beschäftige sie sich jeden Tag. „Ich lasse auch mal das Handy zuhause, aber jeder wird zurückgerufen“, betont Stier-Thompson. Die Anfragen verteile sie mit ihren beiden Teamkollegen.
Die Arbeit beim Weissen Ring gebe ihr einiges zurück. „Ich habe gerne und viel mit Menschen zu tun, kann andere Menschen im Team motivieren und man hilft – ich fühle mich dann immer gut“, verrät sie. Ein Ehrenamt auszuüben, zeige Menschlichkeit, die heute in der immer egoistischer werdenden Gesellschaft leider oftmals eine Seltenheit sei.
Ausbildungsprozess neuer Mitglieder
Der Weisse Ring zählt 2800 ehrenamtliche Aktive deutschlandweit und sei stets offen für neue Mitglieder und Menschen, die helfen wollen. „Das ist schon ein schwieriger Bereich, mit dem man sich befasst, das kann nicht jeder“, betont Stier-Thompson, die auch den Bewerbungsprozess leitet und für die Mitgliedergewinnung zuständig ist.
Dieser Prozess beinhaltet ein Bewerbungsgespräch, einen Selbstauskunftsbogen, den man ausfüllen muss sowie die Datenschutzverordnung akzeptieren und das Vorlegen des polizeilichen Führungszeugnisses.
Danach dürfe man zu Gesprächen mitkommen und hospitieren. Es folge ein Grundseminar, unter anderem mit einem Lernblock über eine Lernplattform im Internet und einem anschließenden Selbsttest. Auch ein zweitägiges Seminar mit intensiver Ausbildung zähle dazu. Nach Abschluss dieses Grundseminars werde man zum ehrenamtlichen Mitarbeiter ernannt und dürfe ohne Begleitung Betroffene beraten.
Nach ein bis zwei Jahren solle ein Aufbauseminar abgelegt werden. Die Kosten der gesamten Ausbildung trage der Weisse Ring, der zudem über eine eigene Academy verfüge. Pro Jahr würden verschiedene Seminare empfohlen werden, Stier-Thompson besuchte zuletzt eins zum Thema „Stalking“, als nächstes stehe „Kulturelle Vielfalt“ an.
Der Weiße Ring finanziere sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden, Nachlässe sowie ihm zugesprochene Einnahmen aus verhängten Geldbußen.
Menschlicher Beistand ist am wichtigsten
Viele ehrenamtliche Mitarbeiter seien ehemalige Polizisten, Kripobeamte oder Juristen, aber auch einige junge Menschen würden sich engagieren.
Das wichtigste bei der Beratung sei der menschliche Beistand – es werde nicht ermittelt oder Daten aufgenommen, lediglich das Delikt und was passiert ist, geschildert. „Wir wollen Betroffene im Gespräch nicht retraumatisieren“, macht die Außenstellenleiterin deutlich.
Sie habe schon Delikte jeglicher Art erlebt: „Von sexuellem Missbrauch in der Kindheit, über Zwangsprostitution, zu häuslicher Gewalt, Cyberkriminalität und vieles mehr war alles schon dabei“. Häufig hätten Betroffene auch mit den Spätfolgen einer Tat zu kämpfen. Das Delikt, das am häufigsten auftrete, sei häusliche Gewalt, dicht gefolgt von Sexualdelikten.
„Man muss die Ereignisse wegschieben können, die Frage ist, kann man das?“, betont Stier-Thompson. Die viele Dankbarkeit seitens der Betroffenen bestätige sie stets darin, das Richtige zu tun.
Zu manchen Personen halte man auch noch länger den Kontakt und könne den Heilungsprozess verfolgen.
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