Kolumne #mahlzeit

Spießer sehen heute aus wie Rockstars - warum eigentlich?

Spießer und andere Kleingeister konnte man früher - in der guten alten Zeit, die es ja doch nie gab - auf Kilometer erkennen - saubere Hemden, Bundfaltenhosen und hübsche Kleidchen. Heute tragen alle Sneaker, Bart und zerfleddertes Haar - findet Kolumnist Stefan M. Dettlinger

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Stefan M. Dettlinger
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© kako

Spießer und andere Kleingeister konnte man früher – in der guten alten Zeit, die es ja doch nie gab – auf Kilometer erkennen: an sauber gebügelten, sauber in der Bundfaltenhose steckenden und sauber nach Lenor duftenden Karohemden oder strahlenden Blumen-Kleidchen und hübschen Pumps an den Füßen. Heute sehen Spießer und Kleingeister aus wie der Selbstmörder Kurt Cobain. Wie Rockstars aus dem Nirvana tragen sie Bärte, sind schlecht frisiert (oder gut auf schlecht getrimmt) und bewegen sich fast ausnahmslos in Sneakern fort – vorzugsweise in Weiß. Ist nur so eine profane Beobachtung.

Manchmal denke ich, die Generation S(neaker) will die sinkende Strahlung schmelzender Eisberge ins Weltall kompensieren und so den Klimawandel aufhalten (mit weiß angepinselten Plastiktretern!). Aber so ist eben der Mainstream, oder nennen wir es Zeitgeist: Der Spießer von heute ist kaum vom Rebell oder Terrorist zu unterscheiden. Ich hab’s versucht. Es geht nicht. Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin – Herr Hinz und Frau Kunz sehen heute genau so aus.

Männliche Spießer tragen langes Haar und Dutt, weibliche Spießer tragen Bubi-Kopf und Glatze. Ist nur so eine profane Beobachtung. Anything goes. Aber alle tragen weiße Sneaker, weil man sich, so meine Theorie, mit weißen Sneakern, wenn man älter als 30 ist, 15 Jahre jünger fühlt. Ich nehme mich da nicht aus. Ziehe ich weiße Sneaker an, springe ich durch die Gegend wie ein niedlicher 42-jähriger Teenager auf einem rosa Hüpfball. Ein tolles Gefühl. Jeder sollte das einmal im Leben versuchen. Ist nur so eine profane Beobachtung.

Aber: Das alles hat seine Logik. Im antiken Rom wurden die Leute 30. Jugend konnte Jugend sein, Alter Alter, Tod Tod. Heute wird man über 90 und ist tot, bevor man stirbt. Nichts ist, wie es scheint. Und da man sich Haar nicht ewig färben, Gesichter nicht ewig liften oder Schwabbelbäuche nicht ewig mager-saugen lassen kann, gibt man die Klamottenparole aus: Forever young!

Es gibt aber Nachteile. Sich 15 Jahre jünger fühlen kann Nebenwirkungen haben: dass auch Lebenserfahrung der letzten fünfzehn Jahre temporär stillgelegt oder für immer eliminiert wird. Nur so lässt sich das Verhalten der Bundesregierung deuten, die schon zum Antritt aussah wie die Indieband The Chaotic Monkeys mit Rampensau Annalena (Vocals), Olaf (Drums), Robert (Keyboard) und Chris (Guitars) auf dem Weg zum Reichstags-Open-Air. Okay, ich sollte nicht unfair sein. Es ist ja nicht alles schlecht. Dass der Veggie-Friday nicht obligatorisch wurde, finde ich gut.

Vielleicht hängt der Sneaker-Jugendwahn einfach damit zusammen, dass es immer weniger junge Leute gibt. Da müssen die Alten selber wieder jung werden. Oder sich fühlen. Die Sneaker-Industrie freut sich. Derzeit sollen weltweit 71 Milliarden umgesetzt werden. Für 2028 sind 90 Milliarden prognostiziert. Und wer weiß: Wenn alle Menschen erst mal (Sneaker-)Brüder sind, vielleicht wird es dann doch noch was mit dem weißen Eisbergersatz. Spießer hin, Rebell her …

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