Kolumne #mahlzeit

Kultur für alle für wenige

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Bela und ich und, ja-ha, noch ein paar andere hier gehören zur größten Bevölkerungsgruppe in Deutschland: Wir sind über 40 und noch keine 60. Genauer will ich nicht werden. Das geht ja niemanden was an. Laut Statistischem Bundesamt sind Bela und ich damit Teil einer Community von 27,3 Prozent der Bevölkerung. Wir sind 23 Millionen! Wir sind die Mehrheit! Die Gruppe davor (20-40) ist kleiner. Die Gruppe danach (60-80) ist kleiner. Noch weiter am Rand wird es naturgemäß noch winziger. Ganz vorn sind die Ungeborenen. Haha. Und dann, vor der Gruppe der Toten, kommt die Gruppe der über Hundertjährigen. Sie ist auf wenige begrenzt, die alle überwiegend nicht Allan Karlsson heißen und überwiegend nicht in der Lage sind, aus dem Fenster zu steigen und zu verschwinden – geschweige denn die Welt zu retten. Ich hoffe, ich bin niemandem zu nahe getreten.

Warum ich das erzähle? Ganz einfach: Bela hat davon angefangen. Er sagte: „Weißt du, was ich total doof finde?“ Ich: „Sag!“ Er: „Die Gesellschaft wird immer älter, aber die gleiche Gesellschaft macht ständig einen Aufstand für die Jugend. Nimm die Theater …“ O nein, ich ahne Schlimmes. „Die Theater“, so Bela, „machen immer mehr Theater für die Jugend, obwohl die Jugend eine klägliche Minderheit von 19 Prozent ist und lieber Netflix glotzt, weil sie dort auch die Inhalte versteht und Geschichten erzählt werden.“

Ich frage Bela, was er machen würde als Schauspielintendant. „Rachmaninow spielen“, sagt er, „nein: Scherz. Ich würde natürlich Sprechtheater veranstalten. Pur. Shakespeare. Molière. Schiller. Goethe. Brecht. Kleist. Büchner. Dürrenmatt. Hauptmann. Frisch. Fassbinder. Bernhard. Geile Texte. Geile Schauspieler. Geile Stimmen. Mehr braucht’s nicht. Ich fühle mich vom Theater diskriminiert. Ich gehöre zu den braven alten weißen Vielzahlern, finde aber nie was auf dem Spielplan. Die spielen nicht für mich. Die spielen für Leute, die kein Theater mögen. Das sehe ich nicht ein. Ich werde mich beschweren. “

Tatsächlich, so geht es mir im Nachhinein durch den Kopf, verbirgt sich hinter dem so populistischen und vor allem Politiker und Gemeinderätinnen beeindruckenden Slogan einer „Kultur für alle“ eine Kultur für alle außer die Mehrheit – also nicht für alle. Ein Wille zu einer Kultur für alle läuft auf den Kulturbeutel hinaus und führt genau so in die Irre wie die wahre Begabung degradierende Beuys-Behauptung, jeder Mensch sei ein Künstler. Adolf Hitler war, obwohl er gezeichnet und gemalt hat, kein Künstler. Er war Monster. Ja, ich weiß, der Satz wird immer aus dem Zusammenhang gerissen und Beuys wollte sagen: Jedem Menschen steht die Möglichkeit offen, Künstler zu sein. Außer Hitler. Der wurde an der Kunstakademie abgelehnt. Leider. Denn danach hat er als Diktator dunkle Weltgeschichte geschrieben.

Also wenn ich Intendant wäre und, sagen wir mal, 150 000 Euro Steuergeld verdienen würde, ich würde mal meine Stammkundschaft fragen, was sie eigentlich von mir will. Und wer ist die Stammkundschaft? Richtig: Bela und ich – zumindest potenziell. Wir sind die Mehrheit!

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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