Viele Leute, die ich kenne, reisen ganz schön wild in der Welt herum. Die wählen – nach meinem Kenntnisstand – alle grün und sind voll auf Öko. Aber sie fliegen nach Kanada. Sie fliegen nach Südafrika. Nach Australien. In den Iran. Sie fliegen sogar in Länder, von denen sie dir vorher nicht mal die Hauptstadt nennen könnten in einem Spiel, wie wir es früher im Auto gespielt haben: Belgien? Brüssel! Argentinien? Buenos Aires! Brasilien – Rio des Janeiro! „Falsch“, riefen dann alle und sangen unisono: „Bra-sie-lie-aaah“.
Eine, die ich kannte, die auch Annalena und Robert wählte und ziemlich viel Geld hatte, flog mal nach Bora Bora. Weiß jemand, wo das ist? Das ist ein Atoll von Kolonial-Frankreich. 16 000 Kilometer weit weg. Wenn man Bora Bora ins Navi eingibt, sagt es: „Die Route von ’Mein Standort’ nach Bora-Bora in Französisch-Polynesien konnte nicht berechnet werden.“ Logisch: Es gibt keine. Es ist „in the middle of nowhere“! Dort würde man nicht mal den Dritten Weltkrieg mitkriegen. Die Hauptstadt von Bora Bora ist übrigens – Paris.
Oder Bela (okay, der wählt nach meinem Kenntnisstand nicht grün). Aber Bela überlegt gerade, ob er im Herbst lieber auf die Seychellen fliegt, aufs Archipel der Malediven oder nach Vietnam, weil: „Ich mag das Essen so gern.“ Ich habe ihn nach den Hauptstädten gefragt. Nachdem er zuerst rumgeeiert, dann Phnom Penh, Colombo, Bangkok und Sudoku gesagt hatte, fiel ihm ein: Hanoi. Das läge doch in Schwaben, sagte ich. Bela schaute verunsichert.
Neulich war mal ein Kumpel ziemlich überrascht, dass ich zwar schon mal in den USA war, aber den Grand Canyon nicht gesehen habe. Also ich bin sicher, dass der Grand Canyon ein ganz tolles Ding ist. Aber es gibt unzählige tolle Dinger, die viel näher sind und die ich auch noch nicht gesehen habe. Ich kenne maximal ein Zehntausendstel des Odenwalds! Okay, der Vergleich ist nicht wirklich gut.
Beim Reisen, denke ich, geht es letztlich ums Stillen von Sehnsüchten, das Füllen einer Leerstelle im Sein und seine Einordnung in neue Zusammenhänge: Wer bin ich? Was ist die Welt? In welcher Beziehung stehe ich zu ihr, zu Anderen, zum Fremden, zu seiner Sprache? Wonach wir verlangen, ist uns dabei selten klar. Und die Sehnsucht ließe sich wohl auch anders stillen: durch Literatur, Philosophie, Musik, geistiges Reisen in neue Sphären, etwa ein Studium (kein Scherz) der Promenadologie an der Uni Kassel.
Sigmund Freud (im Ernst: der war ein bissel sexorientiert) würde im Wunsch, an einem fernen Ort zu sein, ja, quasi mit diesem fernen Ort im Urlaub zu verschmelzen (also mit ihm zu kopulieren), sicherlich etwas Libidinöses sehen. Eine sexuell konnotierte Ersatzhandlung für einen früheren Verlust, der schmerzliches Empfinden auslöste. Chronisch.
Vielleicht können wir künftig ja auch umweltfreundlich mithilfe von KI reisen wie Neo in „The Matrix“. Stecker rein ins Rückenmark, und los geht’s. Vielleicht aber ist alles dort draußen tatsächlich ja nur eine Simulation und wir gefangene Sklaven in dieser computergenerierten Traumwelt. Ein Gutes hätte das ja: Die Kriege würden nur virtuell ausgetragen …
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