Mannheim. Er ist ein junger Mann, dieser Gustav Friedrich Hartlaub (Bild). 1913, mit 29 Jahren, kommt der Bremer Kaufmannssohn und Kunsthistoriker nach Mannheim, als Mitarbeiter von Kunsthallen-Direktor Fritz Wichert. Zehn Jahre später, als Wichert zur Städelschule nach Frankfurt wechselt, wird er dessen Nachfolger. Er will nun eigene Akzente setzen, sich beweisen. Im März 1923 offiziell ernannt, macht er im Mai 1923 einen ersten Anlauf – und benutzt erstmals den Begriff „Neue Sachlichkeit“. Aber er scheitert zunächst.
Mannheim in den 1920ern: Umbruch, Aufbruch, Umwälzungen
Mannheim 1923 – da liegt das Ende des Ersten Weltkrieges und damit auch des Großherzogtums Baden gerade mal gut vier Jahre zurück. Das Jahrzehnt ist geprägt von enormen politischen Umwälzungen, gewaltigen wirtschaftlichen Problemen, aber auch von Aufbruchstimmung und von Erfindungen. 1920 wird das vom jüdischen Gönner Bernhard Herschel gestiftete Hallenbad eingeweiht, 1921 konstruiert Fritz Huber den ersten Rohölschlepper („Lanz-Bulldog“) in Mannheim und das Großkraftwerk entsteht, und 1922 geht das Städtische Krankenhaus am Neckarufer in Betrieb.
Aber immer wieder kommt es zu heftigen Arbeitskämpfen und gewalttätig verlaufenden politischen Auseinandersetzungen, sogar Schießereien. Viele Menschen sind im Zuge von Wirtschaftskrisen und Hyperinflation arbeitslos, es gibt eine große Wohnungsnot. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ist die Pfalz französisch besetzt, Mannheim daher Grenzstadt. Anfang 1923 bis Oktober 1924 besetzen nach einem Streit über die im Versailler Vertrag vereinbarten Reparationszahlungen Deutschlands französische Soldaten nicht nur das Ruhrgebiet, sondern auch Teile Mannheims, darunter das Schloss, den Hafen bis zum Luzenberg und den Rheinauhafen.
Erster Anlauf scheitert an Besatzungssoldaten
Die Ausstellung in der Kunsthalle
- Die Ausstellung: Die Ausstellung „Neue Sachlichkeit – Das Jahrhundertjubiläum“ läuft vom 22. November bis 9. März 2025 in der Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4.
- Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag bis Sonntag und Feiertage 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 20 Uhr.
- Eintritt: 14 Euro, ermäßigt 12 Euro, Familienkarte 24 Euro (2 Erwachsene mit Kindern unter 18 Jahren), Abendticket 10 Euro (1,5 Stunden vor Schließung), Eintritt frei jeden ersten Mittwoch im Monat MVV Kunstabende von 18 bis 22 Uhr.
- Anreise: Von der Autobahn oder der Kurt-Schumacher-Brücke Beschilderung „Kunsthalle“ folgen; Parkplätze befinden in der Tiefgarage unter dem Friedrichsplatz. Vom Hauptbahnhof ist das Museum in zehn Minuten zu Fuß zu erreichen, ebenso mit den Stadtbahnlinien 3, 4, 5 und 6 sowie den Buslinien 60 und 63.
- Reiss-Engelhorn-Museen: Begleitend gibt es in den Stiftungsmuseen in C 4 die Sonderausstellung „SACHLICH NEU“ der beiden wichtigsten Fotografen der Neuen Sachlichkeit August Sander und Albert Renger-Patzsch sowie des preisgekrönten Mannheimer Fotografen Robert Häusser.
- Begleitprogramm: Zahlreiche Mannheimer Institutionen nehmen das Jubiläum“ zum Anlass, um unter dem Motto „Die 1920er-Jahre in Mannheim“ bis zum 9. März 2025 Veranstaltungen anzubieten – Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Theater, Film, Führungen, Vorträge und Symposien bis hin zu Partys. Infos www.1920er.art/de. pwr
Und ausgerechnet in dieser Zeit soll es eine große neue Kunstausstellung geben? Hartlaub versucht es. Angeregt wird er offenbar durch Paul Westheim, Herausgeber der Kunstzeitschrift „Das Kunstblatt“. Schon am 12. Juni 1922 bittet der Künstler und Kunstfreunde um eine Einschätzung der „neuen gegenständlichen Tendenzen in der Kunst“. Auch Hartlaub zählt zu den Adressaten des Briefs und schreibt in seiner Antwort vom „Scheitern des Expressionismus“, was nun zwangsläufig eine sachliche Darstellung in der Kunst zur Folge haben müsse.
Schon da taucht es erstmals auf, das Wort „sachlich“ im Zusammenhang mit der Kunst. Hartlaub geht noch weiter, unterteilt zwei Richtungen – die konservativ-klassizistische und die eher linke. „Grell zeitgenössisch“ nennt Hartlaub sie, „eher aus Verneinung der Kunst geboren“, dezidiert sozialkritisch und ein „wahres Gesicht unserer Zeit“.
Und trotz dieser schwierigen Zeit macht der Kunsthallen-Direktor einen Anlauf. Am 18. Mai 1923 verschickt er einen Brief und lädt 52 Künstler ein, in Mannheim auszustellen. Er plane „eine mittelgroße Ausstellung“ unter dem Titel „Die neue Sachlichkeit“, so Hartlaub. Er wolle da einen Überblick über das künstlerische Schaffen nach dem Expressionismus geben, schreibt er.
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Aber das klappt nicht. Außer einigen Zusagen bekommt er Absagen, darunter von Otto Dix, einem der prominentesten Protagonisten der Kunstrichtung. „Große Begeisterung für das Projekt ist den schriftlichen Reaktionen nicht zu entnehmen, eher Skepsis und Zurückhaltung“, so Hans-Jürgen Buderer. Von 1986 bis 2001 war er als Ausstellungsmacher in der Kunsthalle tätig, ehe er in die Reiss-Engelhorn-Museen wechselte und dort als für die Kunst- und Kulturgeschichte verantwortlicher Direktor 2015 in Pension ging. In der Kunsthalle verantwortet er 1994 in der Ära des damaligen Direktors Manfred Fath die erste große Ausstellung, die an die wichtige Rolle von Hartlaub und Mannheim für die Kunstgeschichte erinnert hat. Damals hat er die Vorgeschichte und Geschichte der Ausstellung von 1925 und auch den ersten Anlauf dafür 1923 ausführlich aufgearbeitet.
1923 hätte etwa der Münchner Galerist Hans Goltz die Ausdrucksformen des neuen Stils als „noch nicht ausgereift“ für eine Ausstellung bezeichnet. Buderer schildert auch, dass Hartlaub selbst unsicher ist, schreibt gar von einer „gewissen Furcht vor dem Publikum“, wie es wohl auf diese Kunst reagiere.
Letztlich scheitert das Projekt aber an ganz praktischen Problemen, nämlich den französischen Soldaten und der heiklen politischen Lage. „Wie sind die Bilder aus den besetzten Gebieten herauszubekommen?“, zitiert Buderer den Galeristen Karl Nierendorf aus dem Rheinland. Es sei „fast aussichtslos, Künstler aus den besetzten Gebieten in die Ausstellung einzubeziehen“. Zudem nimmt die Inflation zu und die Wirtschaftslage wird schlechter. Das führt dazu, dass Hartlaub mit einem Brief am 7. September 1923 sein Vorhaben absagt. Es sei „unmöglich geworden, die geplante Ausstellung schon in diesem Herbst zu veranstalten“, bedauert Hartlaub.
Aber er gibt nicht auf, macht einen neuen Anlauf, als sich die Wirtschaftslage bessert. Am 27. März 1925 lädt er erneut Künstler nach Mannheim ein, „die nach Überwindung der expressionistischen Art zu einer kompositionell gebundenen, zugleich aber doch wieder gegenständlichen Darstellungsweise streben“. Und diesmal kommt das Projekt dann doch zustande.
Die Eröffnung ist am 14. Juni 1925. Zu sehen sind 125 Gemälde von 32 Künstlern, unter anderem von Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz, Heinrich Maria Davringhausen, Adolf Erbslöh, Ernst Fritsch, Nicolas Gluschenko, Ernst Haider, Wilhelm Heise, Karl Hubbuch, Alexander Kanoldt, Walter Schulz-Matan, Carlo Mense, Anton Räderscheidt, Rudolf Schlichter, Georg Schrimpf, Georg Scholz und Niklaus Stoecklin. Damit werden „erstmals die sehr unterschiedlichen Formen figurativer und gegenständlicher Malerei“ gezeigt, so Buderer. Was allerdings völlig fehlt, das sind Frauen, und auch für die gerade einen Aufschwung erlebende Fotografie oder internationale Künstler ist seinerzeit kein Platz, obwohl in Österreich, Italien, der Schweiz und den Niederlanden Künstler ebenso inzwischen in diesem Stil malen.
„Mannheim ist wohl doch zu sehr Provinz“
Hartlaub will „Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ zeigen, wie er im Untertitel schreibt. Doch statt den Begriffen „Nachexpressionismus“ oder „Magischer Realismus“, wie sie der Münchner Kunstkritiker und Kunsthistoriker Franz Roh propagiert, setzt sich recht schnell Hartlaubs Bezeichnung „Neue Sachlichkeit“ durch.
Dennoch spricht Buderer in seiner Rückschau von einer „zwiespältigen Bilanz“. „Als Besuchererfolg kann die Ausstellung nicht bewertet werden“, denn bis September 1925 kommen – bei einem Eintritt von 50 Pfennigen – 4405 Menschen. Das sei „eher unterdurchschnittlich“ und deutlich weniger als zu vergleichbaren Sonderschauen, etwa den über 7000 bei einer Ausstellung von Medaillen und Plaketten mit dem Titel „Moderne Kleinplastik“ oder zu gar 10 000 Besuchern, die „Typen Neuer Baukunst“ sehen wollen.
Ein anderes Bild ergebe indes der Blick auf die Presseresonanz. Dass Zeitungen in Berlin, Essen, Hamburg, Hannover, Kassel, München, Leipzig und Breslau über „Die Neue Sachlichkeit“ berichten, „lässt deutlich ihre zunehmende Bedeutung erkennen“, meint Buderer. Allerdings gibt es auch Kritik, etwa die Einstufung als „Ingenieurkunst“, so das „Karlsruher Tagblatt“: Es sei „Kunst ohne Seele“ und „Kunst von Künstlern, die keine Künstler sind“.
Gerade der Titel „Die Neue Sachlichkeit“ kommt bei vielen Kritikern, vor allem aus der Region, nicht an – was Hartlaub schmerzt. „Mannheim ist wohl doch zu sehr Provinz, um den Wert einer Konstatierung, wie die Ausstellung sie versucht, voll zu würdigen“, schreibt er verärgert in einem Brief an einen Münchner Kunstkritiker.
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Doch die Mannheimer Initiative von Hartlaub zieht Kreise. Im Oktober übernimmt der Sächsische Kunstverein Dresden die „Wanderausstellung der Städtischen Kunsthalle Mannheim“, wie es heißt, zum Jahreswechsel 1925/26 geht sie in das Städtische Museum Kunsthütte in Chemnitz. Aber auch da erlebt Hartlaub laut Buderer „die zunehmende ablehnende Haltung gegenüber der neuen bildnerischen Ausdrucksform“, die „so sachlich ist, dass sie nicht mehr als ein trockenes, nüchternes Konterfei der Umwelt“ sei, so die „Sächsische Staatszeitung“. Im Gegensatz zu Mannheim erweist sich die Ausstellung in Sachsen indes als Besuchererfolg. Teilweise fehlen im Vergleich zur Kunsthalle aber Gemälde, weil Künstler oder Leihgeber sie nicht länger zur Verfügung stellen. Noch größer sind die Lücken, als Erfurt und Dessau die Ausstellung übernehmen, danach sogar – aber ohne Hartlaubs Mitwirkung – Halle, Jena und Essen.
1933 knüpft Hartlaub an den Erfolg an, organisiert mit dem Dessauer Kunstverein eine weitere Ausstellung „Deutsche Provinz – Beschauliche Sachlichkeit“. Da werde die Fokussierung „auf die Gegenständlichkeit der Darstellung besonders deutlich“, sagt Buderer, der „teilweise völlig unvereinbare Positionen innerhalb der Neuen Sachlichkeit“ durchaus kritisch sieht. „Die Pluralität der Ausdrucksformen der Künste in der Weimarer Republik ist nicht das Resultat einer staatlich sanktionierten Autonomie der Künste“, meint er, „sondern der Reaktion auf einen revolutionären politischen und kulturellen Wandel“.
Von den Nazis als „entartet“ abgehängt
Dieser Wandel wird noch gewaltiger – es ist nämlich ein Wandel zur Diktatur. Hartlaub kann die Ausstellung zwar am 19. Februar 1933 noch eröffnen. Aber im Januar 1933 haben die Nationalsozialisten die Macht übernommen. Jetzt ist Deutschland eine Diktatur. Am 20. März 1933 entlassen die Nazis Hartlaub als Direktor der Kunsthalle. Er wird verfolgt, geht in die innere Emigration und wird 1946 Professor in Heidelberg.
Die von ihm geförderte Kunst gilt unter den Nazis als „entartet“, seine Ankäufe aus der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ werden als „Kulturbolschewistische Bilder“ gebrandmarkt, abgehängt und beschlagnahmt. Viele verschwinden oder werden im Zweiten Weltkrieg zerstört, andere können gerettet werden. Sie bilden bis heute den Grundstock der Sammlung der Kunsthalle und prägen ihr Gesicht, sagt die stellvertretende Direktorin Inge Herold.
Sie ist jetzt für die neue Sonderschau verantwortlich, wählt einen völlig neuen Ansatz – aber steht vor dem gleichen Problem wie 1994 Buderer: Fotos der Ausstellung von 1925, wo man die Hängung der Werke sieht, gibt es nicht, nur Aufzeichnungen. Aber sie will gar keine Kopie von damals zeigen, obwohl es „unzweifelhaft die bekannteste wie auch bedeutendste Ausstellung in der über 100-jährigen Geschichte Kunsthalle“ sei. Sie hinterfragt und ergänzt das damalige Konzept, zeigt zudem die Entstehungsgeschichte und die Rahmenbedingungen.
Aber natürlich gehe es vor allem darum, die Leistung Hartlaubs zu würdigen. „Eine ganze Epoche mit einem einzelnen Begriff zu prägen, gelingt nur äußerst selten“, so Herold. Weit über die kunsthistorische Bedeutung hinaus sei der Begriff „Neue Sachlichkeit“ zum Synonym für den kulturellen Aufbruch der 1920er-Jahre geworden, über Malerei und Grafik hinaus auch in Architektur, Design, Fotografie oder Literatur. Mannheim hat damit Kunstgeschichte geschrieben.
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