Das mächtige Monument ist von den Flaggen der – neuerdings 32 – Mitgliedstaaten umgeben. „NATO-Stern“ wird die rotbraune, 1971 vom belgischen Architekten Raymond Huyberechts geschaffene Skulptur aus werkseitig oxidiertem Stahl genannt. Sie soll einen Kompass darstellen – denn der ist das Logo des Bündnisses. Er halte, so hat es der frühere NATO-Generalsekretär Lord Ismay mal formuliert, die Mitglieder auf dem richtigen Weg des Friedens. Und das nun schon 75 Jahre lang.
4000 Mitarbeiter arbeiten dafür in Brüssel im Hauptquartier, einem gigantischen Komplex aus Stahl und Glas am Brüsseler Boulevard Léopold III mit rund 254 000 Quadratmetern Bürofläche für den Generalsekretär, alle politischen und militärischen Führungsgremien sowie die Angestellten. Das ist nur etwas weniger als das US-Verteidigungsministerium Pentagon in Washington, das mit seinen rund 345 000 Quadratmetern als das größte Verwaltungsgebäude der Welt gilt.
Außer dem Stern haben die Mitarbeiter auf dem riesigen Hochsicherheitsgelände stets drei Dinge vor Augen, die ihnen einschneidende geschichtliche Ereignisse vor Augen führen sollen: Es ist ein Stück der 1989 gefallenen Berliner Mauer und ein Segment des am 11. September 2001 von Terroristen zerstörten World Trade Centers New York, denn nach diesem Terrorakt hat die Organisation zum bisher ersten Mal den Bündnisfall ausgerufen, was zum Einsatz der NATO-Schutztruppe ISAF in Afghanistan führt. Und dann erinnert da noch ein hellgrauer bulgarischen Trabant 601 an den NATO-Beitritt von sieben osteuropäischen Ländern 2004.
Von Frankreichs Präsident für „hirntod“ erklärt
15 Jahre später hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drastische Worte gewählt. „Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der NATO“, sagt er in einem Interview mit dem englischen Magazin „The Economist“ über fehlende Absprachen mit den USA und der Türkei – ein Satz, der damals in Brüssel, quasi dem Hirn des Bündnisses, für Empörung sorgt. Karl A. Lamers hat das seinerzeit direkt mitbekommen. 1994 bis 2021 Abgeordneter der CDU für Heidelberg im Deutschen Bundestag, gehört er zudem 1998 bis 2021 auch der Parlamentarischen Versammlung der NATO an, zeitweise sogar als ihr Vorsitzender.
„Das war Unsinn, hirntot ist sie nie gewesen“, betont Lamers. Aber seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 sei das Bündnis in jedem Fall „schlagartig gesund, bestens funktionsfähig und hat die Reihen geschlossen“, sagt der langjährige Abgeordnete. „Dem Geburtstagskind geht es gut“, bekräftigt der herausragendste NATO-Kenner in der Metropolregion. Zwar mache er sich „große Sorgen“ über die Lage in die USA, sollte dort Präsident Joe Biden („Ein großer Transatlantiker, ich kenne ihn persönlich“) das Weiße Haus für Donald Trump räumen müssen. Europa habe leider zu lange geglaubt, sich innerhalb Europas nicht mehr verteidigen zu müssen.
Nato: Besucher-Tipps
- Anschrift: NATO, Boulevard Leopold III, B-1110 Brussels.
- Ständige Vertretung Deutschlands: Boulevard Léopold III, B-1110 Brüssel. E-Mail: info@bruessel-nato.diplo.de
- Vorträge und Besuche: Ein Besuch im NATO Hauptquartier ist über die Ständige Vertretung mit Gruppen möglich, aber nicht als Einzelperson. Die Ständige Vertretung bietet auch Vorträge über ihre Arbeitsweise und die NATO an. Die Vorträge dauern etwa 60 bis 90 Minuten und sind kostenfrei. Das NATO Hauptquartier ist aber jeweils einige Tage vor und während Treffen der Minister oder Staats- und Regierungschefs nicht für Besucher zugänglich. .
- Praktika: Die NATO bietet in Brüssel sechsmonatige bezahlte Praktika für Bewerber im dritten Studienjahr oder Absolventen an. Informationen kann man anfordern per E-Mail an internships@hq.nato.int.
- Deutsche Atlantische Gesellschaft: Die Regionalkreise der Organisation organsieren Vorträge, Symposien und Seminare. Regionalleiter des Forums Heidelberg/Mannheim ist Karl A. Lamers, Kontakt per E-Mail : office@karl-lamers.de. pwr
Doch die NATO hat für Lamers alle Glückwünsche zum Jubiläum verdient. Sie habe sich „zu 100 Prozent bewährt“, betont er, „denn sie hat uns Frieden und Freiheit bewahrt!“ Die gegenseitige Bündnisverpflichtung sei immer „ein klares Signal gewesen, wonach jeder Millimeter NATO-Gebiet verteidigt wird“, denn jedem „imperialen Wahnsinnigen“, wie er sagt, sei klar gewesen, dass er bei einem Angriff alle Mitglieder gegen sich habe. „Und das ist heute wichtiger denn je“, unterstreicht Lamers.
Damit meint der langjährige Parlamentarier den Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, der das Herzstück des Bündnisses darstellt und das Prinzip der kollektiven Verteidigung festschreibt. „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird“, heißt es da. Dann werde jeder Mitgliedsstaat „in Ausübung des in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen anerkannten Rechtes der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand“ leisten.
Dabei ist genau das Gebiet definiert, auf das sich diese Bündnisverpflichtung erstreckt. Aufgezählt werden Europa, Nordamerika, die Türkei, die der Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses. Aber auch Angriffe auf alle Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses zählen dazu.
Sowjetunion bedroht den Westen
Unterzeichnet wird der Nordatlantikvertrag in Washington am 4. April 1949 – der Tag ist die Geburtsstunde der NATO. Kanada, die USA sowie die europäischen Länder Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal bekunden darin „ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben“. Zugleich seien sie aber „entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“, heißt es darin.
Genau diese Grundsätze sehen sie nämlich 1949 bedroht – vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Zwar bauen USA, Kanada und Großbritannien ihr Militär stark ab, von fast fünf Millionen Mann bei der deutschen Kapitulation 1945 auf etwa 900 000 Soldaten in 1946. Nicht so die Sowjetunion, die von vier Millionen Mann weiter 3,5 Millionen unter Waffen hält, noch auf Hochtouren Rüstungsgüter produziert, zahlreiche osteuropäische Länder unter ihre Kontrolle bringt sowie sich in anderen einzumischen versucht. Der britische Politiker Winston Churchill prägt daher im März 1946 den Satz vom „Eisernen Vorhang“, der kommunistische und demokratische Länder Europas teilt.
Die Situation spitzt sich noch durch den kommunistischen Umsturz im Februar 1948 in der Tschechoslowakei zu. Schon am 17. März 1948 bildet sich daher die „West-Union“ aus Frankreich, Großbritannien und den Benelux-Ländern als erster Schritt kollektiver Sicherheitspolitik mit einem ständigen „Westverteidigungsrat“ unter dem Befehl des britischen Feldmarschalls Montgomery. Dieser „Brüsseler Pakt“ sieht ebenso eine gegenseitige Beistandsverpflichtung vor.
Doch dann wird der Kalte Krieg immer heftiger, die Sowjetunion immer aggressiver. Am 24. Juni 1948 riegelt sie den Zugang zu Berlin, das eigentlich alle vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gemeinsam verwalten, ab – sie will sich die Stadt einverleiben. Doch die Alliierten versorgen die Stadt trotz der Blockade knapp ein Jahr über eine Luftbrücke.
Strategie der massiven Vergeltung
Daraufhin wird immer klarer, dass ein starkes Bündnis zur Sicherung von Demokratie und Menschenrechten nötig ist und sich Westeuropa an die USA anlehnen muss – weshalb die Amerikaner ihre lange gepflegte Tradition des Isolationismus nicht mehr aufrechterhalten können. Im März 1949 fordern daher die „West-Union“-Staaten die USA, Kanada und weitere Europäer dazu auf, ein größeres Bündnis zu schließen.
Vor 75 Jahren, am 4. April 1949, folgt daraufhin in Washington die Unterschrift der Außenminister der USA, Kanadas und zehn europäischer Staaten (Dänemark, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal) unter den Nordatlantikvertrag und damit die Gründung der North Atlantic Treaty Organisation (NATO). Griechenland und die Türkei folgen 1952.
Die Allianz, deren Mitglieder das demokratische Wertesystem eint, beruft sich auf das Recht unabhängiger Staaten auf individuelle und kollektive Verteidigung gemäß der Charta der Vereinten Nationen (VN). Sie will, so der Vertrag, „die innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Raum fördern“ – was sich als wichtige psychologische Klammer über den Atlantik hinweg erweist, aber auch als praktische Abschreckung dank der Bereitschaft, das gesamte Gebiet notfalls mit militärischen Mitteln zu verteidigen.
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General Dwight D. Eisenhower wird erster Oberster Befehlshaber. Ab 1952 kommt ein – ziviler – Generalsekretär als oberster Repräsentant dazu. Zunächst gilt die Strategie der „Vorneverteidigung“ („forward strategy“), wonach ein sowjetischer Angriff so früh wie möglich gestoppt werden muss. Am 6. Mai 1955 folgt der NATO-Beitritt der Bundesrepublik und im November 1955 die Gründung der Bundeswehr – worauf die Sowjetunion mit der Gründung des Warschauer Paktes am 14. Mai 1955 reagiert.
Die Nato - stabiles Bündnis während zahlreicher Krisen und Kriege
Ab 1957 gilt die Strategie der „Massiven Vergeltung“ („massive retaliation“). Danach reagiert die NATO auf einen Vorstoß feindlicher Truppen mit einem sofortigen nuklearen Schlag gegen die Sowjetunion. Als deren Atomwaffenarsenal aber deutlich anwächst, entschließt sich die NATO 1968 zur „Flexiblen Erwiderung“ („flexible response“) – der Gegner wird also völlig im Unklaren gelassen, wann, wie und womit die militärische Reaktion auf seinen Angriff erfolgt.
1950 Korea-Krieg, 1961 Mauerbau in Berlin, 1962 die Kuba-Krise zwischen USA und Sowjetunion, 1968 der von Sowjets niedergeschlagene „Prager Frühling“ – stets erweist sich die NATO als starkes, stabiles Bündnis. Und sie sichert mit ihrer Stärke letztlich die (west-)deutsche Verhandlungsposition bei der Entspannungspolitik ab 1969 oder bei den Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle.
Ende der 1970er Jahre beginnt die Sowjetunion indes, ungeachtet der Rüstungskontrolle bei strategischen Atomwaffen, mit der Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen – gerichtet auf europäische Hauptstädte. Die NATO fasst das als ernsthafte Bedrohung und Provokation auf und formuliert 1979 den berühmten Doppelbeschluss: massive Aufrüstung mit Raketen („Pershing II“), zugleich aber Angebot von Abrüstungsgesprächen. Das schlägt Moskau aus, weil es glaubt, dank der – teils aus dem Osten gesteuerten und finanzierten – Friedensbewegung die Stationierung verhindern zu können. Doch das klappt nicht. Die ersten Raketen kommen 1983. Erst Michael Gorbatschow, der 19985 in Moskau an die Macht kommt, beendet den wahnsinnigen Rüstungswettlauf.
Doch keine Entspannung in Europa
Mit ihm beginnt eine Phase der enormen Entspannung in Europa. „Wir sind von Freunden umzingelt“, meint nett-flapsig der damalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe Anfang der 1990er Jahre. Das kommunistische System in Osteuropa bricht zusammen und fast glaubt man, keine NATO mehr zu brauchen. Zum 50-jährigen Bestehen nennt der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana das Bündnisgebiet „das sicherste und stabilste Gebiet der Welt“ und die NATO „einen beispielhaften Erfolg“. Das Bündnis beweise durch seine Erweiterung, „dass es in Europa keine Trennmauern mehr gibt“.
1991, mit der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Ende der Sowjetunion, löst sich die NATO im „The Alliance’s New Strategic Concept“ vom Abschreckungsgedanken, betont die Zusammenarbeit mit früheren Ostblockstaaten und räumt internationalem Krisenmanagement eine große Bedeutung ein – was nach dem Zerfall Jugoslawiens dort nötig wird. 1994 folgt das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP). Es bietet dem Warschauer Pakt eine Zusammenarbeit an.
1997 wird gar ein Partnerschaftsvertrag mit Russland und der Ukraine unterzeichnet, ein NATO-Russland-Rat eingerichtet. Zum Leidwesen von Russland reicht den ehemaligen, nun demokratischen Warschauer-Pakt-Staaten aber eine Kooperation nicht. Vielmehr praktiziert Moskaus zunehmend eine expansionistische Machtpolitik. 1999 treten daher Polen, Tschechien und Ungarn, 2004 Rumänien, Bulgarien, Slowenien, die Slowakei, Estland, Lettland und Litauen der NATO bei.
Zum 60. Gründungstag gibt es einen besonderen Gipfel in Baden-Baden und Kehl, bei dem die 26 Mitgliedsstaaten Albanien und Kroatien als neue Mitglieder begrüßen. Montenegro folgt 2017 und Nordmazedonien 2020 – alle, weil sie dem großen Nachbarn im Osten misstrauen. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine schließen sich 2023 Finnland und am 7. März 2024 Schweden der Allianz an. Und da ist plötzlich wieder von Bündnisverteidigung sowie Abschreckung die Rede – Worte, die man in Brüssel schon aus dem Sprachgebrauch gestrichen hatte.
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