Zeitreise

"Ohne jeden Luxus" - die Stuttgarter Weissenhofsiedlung

Sie gilt als eines der bedeutendsten baulichen Zeugnisse der Moderne: die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung Stuttgart. Ein Doppelhaus ist von der Unesco als Weltkulturerbe eingestuft und dient als Museum

Von 
Peter W. Ragge
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Revolutionäre Architektur der 1920er Jahre: Oben das Einfamilienhaus und das als Museum dienende, als Welterbe eingestufte Doppelhaus von Le Corbusier und Pierre Jeanneret © Brigida González

Stuttgart. Der erste Gedanke: Ist das eng hier. Man kann sich gerade mal herumdrehen, mehr nicht. Aber das ist Absicht. Große, ja großzügige freie Wohnbereiche werden durch ganz schmale, ja enge Flure erschlossen, nur knapp 60 Zentimeter breit. „Es ist die Breite der Schlafwagen der Internationalen Schlaf- und Speisewagengesellschaft“, erklärt Wiebke Sander vom Verein Freunde der Weissenhofsiedlung, dem Träger des Museums, die Idee der beiden Architekten Le Corbusier und Pierre Jeanneret.

Das Doppelhaus der beiden berühmten Planer in der Rathenaustraße 1-3 in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung ist faszinierend eingenwillig-ungewöhnlich. Das war es schon bei der Entstehung 1927, und das ist es bis heute. 2016 hat die UN-Kulturorganisation UNESCO es daher als Weltkulturerbe eingestuft, mit sechzehn weiteren Bauensembles Le Corbusiers auf der ganzen Welt. Schließlich gilt seine Architektur „bis heute als revolutionär“, hebt Wiebke Sander hervor.

Während die rechte Haushälfte weitgehend originalgetreu restauriert worden ist und quasi als begehbares Exponat dient, erklärt ein 2006 in der linken Haushälfte eingerichtetes Museum mit Modellen, Fotos und Plänen die Entstehungsgeschichte, Idee und Entwicklung nicht nur der beiden Häuser, sondern der gesamten Weissenhofsiedlung.

Woher die Weißenhofsiedlung ihren Namen hat

Sie entsteht „vor dem Hintergrund einer großen Wohnungsnot“ in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, wie Sander in Erinnerung ruft. Da soll sie „Möglichkeiten schnellen, kostengünstigen Bauens“ zeigen. Initiiert wird sie vom Deutschen Werkbund, 1907 gegründet von Architekten, Künstlern und Unternehmern, der bis heute besteht. Er tritt interdisziplinär „für ein qualitätvolles Gestalten der humanen Umwelt“ ein – heute würde man sagen: für lebenswerte Stadtquartiere und nachhaltiges Bauen.

Im Sommer 1927 richtet er die erste internationale Ausstellung „Die Wohnung“ aus. Aber es soll keine Ausstellung auf Zeit sein. „Es ging nicht, wie bei früheren Bauausstellungen, um temporäre Gebäude, sondern es sollten dauerhaft Wohnungen errichtet werden“, betont Sander. Und die gelten bis heute als eines der wichtigsten Zeugnisse des Bauens, aber ebenso des sozialen, ästhetischen wie technischen Umbruchs der 1920er Jahre.

Das Haus von Hans Scharoun. © Gonzáles/Weissenhofmuseum

Sie stehen dort, wo die Brüder Weiß im 18. Jahrhundert einen Hof bewirtschaftet haben – daher der Name. Die Stadt Stuttgart stellt dem Werkbund für das Projekt die unbebaute Hanglage am Killesberg zur Verfügung, will die Wohnungen danach vermieten. Sie sollen, so die Vorgabe, „mit geringen Mitteln, ohne jeden Luxus, wirtschaftlich und funktional“ errichtet werden, zählt die Mitarbeiterin des Museums die Vorgaben auf: „Kostengünstig, schnell, seriell“, zitiert sie.

Mies van der Rohe - zu kühne Ideen für Mannheim

„Rationalisierung und Typisierung sind nur Mittel, dürfen niemals Ziel sein“, erklärt Mies van der Rohe dazu im Katalog der Ausstellung mit dem Titel „Wie wohnen“?“ Der berühmte deutsch-amerikanische Architekt ist seinerzeit Vizepräsident des Werkbunds und als Künstlerischer Leiter das, was man heute Generalplaner der Ausstellung nennen würde. In Mannheim hat er sich Jahre später, 1953, mit einem Entwurf am Wettbewerb für das neue Nationaltheater am Goetheplatz beteiligt, aber seine Ideen scheinen den Stadtvätern viel zu kühn – sie lehnen sie ab. Nur seine als „Barcelona Chair“ bekannten Freischwingersessel werden für das Foyer angekauft.

Für Stuttgart entwirft Mies van der Rohe selbst nur einen größeren Wohnblock mit Zwei- bis Vierzimmerwohnungen, der quasi als ein Riegel die Siedlung abschließt. Sonst sieht er frei stehende Einfamilienhäuser, Doppel- und Reihenhäuser vor, für deren Planung er „die charakteristischsten Vertreter der neuen Bewegung“, wie er im Katalog formuliert, einlädt. Von Walter Gropius bis Peter Behrens und Hans Scharoun, Hans Poelzig oder Bruno und Max Taut, aber auch Holländer, Belgier und Österreicher werden beauftragt, alles bekannte Namen – an der Spitze Le Corbusier. In der Gestaltung sind sie, bis auf das vorgeschriebene Flachdach, frei. Die 17 internationalen Architekten legen insgesamt 33 innovative und zukunftsgerichtete Entwürfe vor.

Weissenhofmuseum -Tipps für Besucher

  • Anschrift: Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier, Rathenaustraße 1, 70191 Stuttgart, im Internet: www.weissenhofmuseum.de
  • Öffnungszeiten: Museum ab 30. Januar Dienstag bis Freitag ab 11 bis 18 Uhr, Samstag, Sonntag, Feiertage: 10 bis 18 Uhr (auch wenn der Feiertag auf einen Montag fällt). Die Siedlung ist ohne zeitliche Einschränkung und frei zugänglich, die Häuser aber nicht – sie sind bewohnt.
  • Eintritt: fünf Euro, ermäßigt zwei Euro (Schüler, Auszubildende, Studenten, Sozialhilfeempfänger, Menschen mit Behinderung), Kinder bis zum vollendeten 11. Lebensjahr frei.
  • Offene Führungen: täglich außer montags um 15 Uhr, sonn- und feiertags zusätzlich um 11 Uhr. Teilnehmerzahl begrenzt, Reservierung ist nicht möglich.
  • Anfahrt: Ab Hauptbahnhof Stuttgart U 5 Richtung Killesberg bis Haltestelle Killesberg, dann ca. 10 Min. Fußweg auf der Friedrich-Ebert-Straße, oder Bus Linie 44 bis Haltestelle Kunstakademie, Parken beim Weissenhofmuseum in Parkbuchten der Friedrich-Ebert-Straße. pwr

Sie alle haben wenig Zeit, die Phase der Vorbereitung ist äußerst knapp – teilweise gerade mal acht Monate liegen zwischen Auftrag und Ausstellungseröffnung. Zu den Häusern hinzu kommen drei weitere Ausstellungsteile zum modernen Bauen weltweit, zu Inneneinrichtung, Baumaterialien und Konstruktionen sowie zu Hausgeräten. Bei Ausstellungsbeginn sind daher gerade mal zwei Drittel der Bauten fertig. Ein Rezensent schimpft in seinem Artikel, er habe seinen „neuen Sommermantel mit frischer Ölfarbe eingeseift“.

Dennoch kommen zwischen 23. Juli 1927 und 31. Oktober 1927 eine halbe Million Besucher nach Stuttgart. Die Ausstellung gilt als Medienereignis, wird heftig diskutiert –wenn auch teils polemisch. Nicht nur der „Bund für Heimatschutz Württemberg“ kritisiert eine „schwere Schädigung des Landschaftsbilds von Stuttgart“. Wegen der Flachbauten mit den weißen Fassaden ist von „Araberdorf“ und „Neu-Marokko“ die Rede und die internationalen Architekten werden – zunehmend durch die seit Beginn der 1930er Jahre aufgeheizte politischen Stimmung – als „Baubolschewiken“ diffamiert.

Nazis planen Abriss

Den Nationalsozialisten ist die moderne Architektur zuwider. Sie erwägen gar den Abriss. Die Stadt Stuttgart bietet das Gelände erst dem Reichssender Stuttgart als Bauplatz an, dann dem Oberkommando des Heeres als Standort für ein neues Generalkommando für den Wehrkreis V. Das Deutsche Reich kauft das Areal und kündigt den Mietern zum 1. April 1939, aber durch den Zweiten Weltkrieg werden die – schon weit fortgeschrittenen – Pläne gestoppt. In einige der nun leerstehenden Gebäude ziehen Büros der Reichsgartenschau, die 1939 – noch vor Kriegsbeginn – auf dem Killesberg läuft, in einige Soldaten einer Flugabwehr-Einheit, und der Wohnblock von Mies van der Rohe wird zum Kinderkrankenhaus.

Im Zweiten Weltkrieg erleidet die Mustersiedlung starke Schäden. Zehn der ursprünglich 33 Häuser werden vollständig oder teilweise zerstört, nach dem Krieg dann abgerissen. Auch in der Nachkriegszeit weiß man den Wert der Siedlung nicht zu schätzen, es folgt noch ein Abbruch und zahlreiche Umbauten. 1958 wird die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt – was aber zunächst wenig praktische Bedeutung hat. Erst 1977 formiert sich, zum 50. Jahrestag der Werkbund-Ausstellung, der Verein Freunde der Weissenhofsiedlung zu dessen ersten Vorstand Frei Otto – bekannt vom Münchner Olympiastadion und der Dachkonstruktion der Mannheimer Multihalle – gehört.

Die Häuser von von Peter Behrens und Mart Stam. © Brigida González

Der Verein betreibt zunächst in einem ehemaligen kleinen Milchladen in der Siedlung ein Informationszentrum. Und er schafft es, dass in den 1980er Jahren eine erste Sanierung erfolgt. Aber auch da geht original erhaltene Bausubstanz verloren, etwa aus Gründen der Wärmedämmung. „Lange hat man die Bedeutung der Siedlung nicht so stark gesehen“, bedauert Wiebke Sander noch heute. Erst 2002 bis 2005 folgt eine weitere, nun denkmalgerechte Sanierung.

2002 kauft die Stadt Stuttgart das Doppelhaus, 2018 über ihre Wohnungsbau-Tochter die ganze architektonisch bedeutsame Siedlung von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. „Die Weissenhofsiedlung hat Strahlkraft weit über den Kesselrand hinaus. Ihr Stil ist einzigartig und erfährt weltweite Beachtung,“ begründet das der damalige Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne). Daher wolle er die erhaltene Siedlung als Ganzes bewahren. Heute wird sie durch ein Leitsystem erschlossen. Es stellt die Grundrisse, die Planungsideen und die jeweils verantwortlichen Architekten der – ja privat genutzten und deshalb nicht zugänglichen – Häuser vor. „Die sind alle vermietet“, informiert Wiebke Sander. Die Mieten orientierten sich am örtlichen Mietspiegel, und wie nach 1927 leben auch heute noch viele Angehörige des öffentlichen Dienstes hier.

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Zu besichtigen ist nur das Doppelhaus von Le Corbusier (1887-1965) und seinem Vetter Pierre Jeanneret (1896-1967). Bis in die 1980er Jahre bewohnt, wird es dann mit Mitteln der Wüstenrot-Stiftungaufwendig saniert, Farbgebung und Einrichtung nach Originalunterlagen rekonstruiert. Seit 2006 betreibt der Verein hier das Weissenhofmuseum. Da lässt sich gut nachvollziehen, warum das Gebäude als, so Wiebke Sander, „bedeutender Meilenstein der Architekturgeschichte“ und die eigenwilligste Konstruktion der ganzen Siedlung gilt.

Le Corbusier und Pierre Jeanneret haben die Gebäude als Prototypen begriffen, um zu zeigen, dass sich ihre schon 1923 publizierten „Fünf Punkte zu einer neuen Architektur“ tatsächlich umsetzen lassen. So ersetzt ein Raster von Betonstützen die tragenden Mauern und wird zur Grundlage der neuen Ästhetik. Dachgärten auf einem Flachdach sollen sowohl als Nutzgarten wie auch zum Schutz des Betondachs dienen, „sind aber auch Ort der Begegnung und der Bewegung für die Bewohner an Licht und Luft“, wie Wiebke Sander ergänzt. Die freie Grundrissgestaltung, Langfenster, welche die Wohnung mit viel gleichmäßigem Licht, versorgen, und die freie Fassadengestaltung durch eine Trennung der äußeren Gestaltung von der Baustruktur (Vorhangfassade) sind weitere Punkte.

Zimmer für Dienstmädchen

„Das transformable Doppelwohnhaus“ haben es die beiden Planer genannt und hier erstmals eine Stahlskelett-Konstruktion ohne tragende Mauern realisiert. „Man ist also bei der Innenaufteilung völlig flexibel – das bedeutet für die damalige Zeit einen völlig neuen Ansatz, einen völlig neuen Planungsprozess“, hebt Sander hervor.

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Nicht nur langfristig, etwa nach einer Familiengründung, können sich die Räume wandeln – auch täglich. Le Corbusier hat dazu feste Einbaumöbel entworfen. „Betten können aus den Schränken abends auf Stahlrohrkufen herausgezogen werden und morgens wieder verschwinden, so dass mehr Platz zum Wohnen bleibt“, führt Wiebke Sander vor. Auch durch Schiebewände lassen sich Räume vergrößern oder verkleinern. Zudem halfen beim Bau Schränke aus Beton und Sperrholzplatten, die Kosten zu mindern.

Dabei ist die Raumaufteilung „für damalige Verhältnisse luxuriös“, wie Wiebke Sander sagt. Es gibt einen kleinen Raum im Dachgeschoss als Arbeitszimmer oder Bibliothek mit direktem Zugang zum Dach, das eine hervorragende Aussicht bietet. Die Küche verfügt über einen – damals etwas Besonderes – Gasherd (Marke „Prometheus“), Einbaumöbel und Betonarbeitsplatte. Das helle Badezimmer mit warmem Wasser aus der (Kohle-)Zentralheizung erscheinen heute noch modern. Hinzu kommen Vorratsraum, Waschküche, Keller. Aus heutiger Sicht amüsant wirkt freilich das eigens eingeplante „Mädchenzimmer“ im Erdgeschoss, als Schlafraum für junge Mädchen vom Land gedacht, die in den 1920er Jahren – häufig nur gegen Kost und Logis – auch in mittelständischen Beamtenfamilien und nicht nur beim Großbürgertum im Haushalt und bei der Kindererziehung helfen. Doch überall dort, wo niemand ständig lebt, ist es eben eng – um Platz zu sparen.

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