MUBI kennt man als globalen Streaming-Dienst, verfügbar in 190 Ländern, spezialisiert auf Arthouse-Produktionen. Doch die vom türkischen Unternehmer Efe Çakarel 2007 gegründete Plattform akquiriert und kuratiert nicht nur, sondern tritt auch als Geldgeber auf den Plan. Wie beispielsweise nun bei „Passages“, uraufgeführt beim Sundance Film Festival und anschließend in der Sektion Panorama der diesjährigen Berlinale zu sehen.
Film-in-Film ist zunächst angesagt, was Erinnerungen an François Truffauts „Die amerikanische Nacht“ weckt. In einem Kellerclub inszeniert Tomas (Franz Rogowski) die letzten Einstellungen seines neuesten Spielfilms. Mehrfach, immer zorniger, weist er einen der Schauspieler zurecht, der seinen Regieanweisungen nicht korrekt folgt. Doch schließlich ist die Szene im Kasten und die Gemüter beruhigen sich. Die Abschlussfeier steigt.
Ohne Reue. Ohne Scham.
Tomas, geboren im „schrecklichen“ Bremen, seit Jahren in Paris wohnhaft, animiert seinen britischen Ehemann Martin (Ben Whishaw), doch mit der jungen Grundschullehrerin Agathe (Adèle Exarchopoulos) zu tanzen. Als der ablehnt - zu müde -, begibt er sich selbst aufs Parkett. Und hat bald danach im Hinterzimmer mit der Frau leidenschaftlichen Sex. Wovon er seinem Gefährten am nächsten Tag stolz berichtet. Ohne Reue, ohne Scham.
Franz Rogowski - zarte Seele in rauer Schale
- Jakob Lass hat Franz Rogowski bekannt gemacht, 2011, als Hauptdarsteller seiner improvisierten Independent-Romanze „Love Steaks“, zwei Jahre nachdem er ihn in seinem Debüt „Frontalwatte“ besetzt hatte.
- Die unverwechselbare Physiognomie macht den gebürtigen Freiburger, Jahrgang 1986, der wegen einer Lippenspalte etwas lispelt, aus, er ist die ideale Verkörperung des Phänotyps „zarte Seele in rauer Schale“.
- Den Förderpreis Neues Deutschen Kinos gewann der Autodidakt 2013, 2018 war er Shooting Star der Berlinale, vor Ort in zwei Filmen vertreten: „Transit“ und Thomas Stubers „In den Gängen“.
- In Cannes schritt er 2017 über den Roten Teppich, neben Isabelle Huppert, als deren Filmsohn in Michael Hanekes „Happy End“.
- Zu sehen war Rogowski, Tänzer und Choreograph, der regelmäßig am Theater arbeitet - siehe „Faust“ (Salzburger Festspiele), „Rocco und seine Brüder“ (Münchner Kammerspiele) etc. -, in Sebastian Schippers „Victoria“, der No-Budget-Produktion „Fikkefuchs“ oder Christian Petzolds „Undine“.
- Den Sprung ins internationale Geschäft hat der Breisgauer ebenfalls schon geschafft, siehe Gabriele Mainettis Fantasyfilm „Freaks Out“ oder Giacomo Abbruzzeses Fremdenlegionärsdrama „Disco Boy“.
Eine Dreiecksgeschichte. Ein Stoff, der über weite Strecken an die Arbeiten und Themen Rainer Werner Fassbinders erinnert, umgesetzt vom US-amerikanischen Filmemacher Ira Sachs, der mit seinem langjährigen Co-Autor Mauricio Zacharias („Keep the Lights On“) sowie Arlette Langmann („Vor dem Morgengrauen“) das Drehbuch geschrieben hat. Der Fokus liegt auf Tomas, gezeichnet als wenig empathischer Narzisst. Stets versucht er seinen Kopf durchzusetzen, die Menschen seiner Umgebung haben sich seinem Willen zu beugen.
Einfühlsames Drama
So lässt sich Martin durch die Affäre von Tomas zunächst nicht aus der Ruhe bringen. Lauscht wie dieser euphorisch von seinen aufgewühlten Emotionen berichtet. Konstatiert gelassen: „Das passiert immer, wenn du einen Film fertigstellst. Du vergisst es nur.“ Doch Tomas macht ernst, zieht zu Adèle. Das vermeintlich neue Glück ist von kurzer Dauer. Als ein Neuer, der attraktive, erfolgreiche Schriftsteller Amad (Erwan Kepoa Falé), in Martins Leben tritt, ist Tomas’ Eifersucht geweckt. Er setzt alles daran, seine alte Beziehung zu reaktivieren.
Ein queeres, einfühlsames, gut beobachtetes Drama über einen Egozentriker, der Chaos verbreitet, die Schuld konsequent bei den anderen sucht. Während Whishaw („Das Parfum - Die Geschichte eines Mörders“) die Rolle des besonnen handelnden und verständnisvollen Gatten - 15 Jahre ist das wohlsituierte Paar, das sich bald über den Verkauf des gemeinsamen Landhauses streitet - zufällt, brilliert Rogowski („Undine“) als Enfant terrible. Schreit und wütet, rast auf seinem Fahrrad mit eingezogenem Kopf durch die Straßen.
Seinem Gemüt, seiner Nonkonformität, entsprechen Habitus und Kleidung. Er trägt Netzshirts, bauchfreie Tops und bunte Lederhosen, macht die Nacht zum Tag, bricht bei einem Abendessen im Restaurant lustvoll einen Streit vom Zaun und rauscht dann ab.
Übergänge der Liebesformen
Ein Beziehungsfilm, der - wie der Titel andeutet - von den Übergängen von einer Liebesform in eine andere und wieder zurück erzählt. Stimmig versteht es der Regisseur zu zeigen, wie Gefühle entstehen, sich langsam verändern und schließlich erkalten. Ganz beiläufig tut er dies, gleichzeitig ganz offen - inklusiver expliziter, niemals jedoch voyeuristischer Bettszenen beiderlei Geschlechts. Mutig stellen sich die Darsteller ihrer schwierigen Aufgabe, legen im wahrsten Sinne des Wortes ihr Innerstes bloß. Wohl ein Déjà-vu für Exarchopoulos, die bereits in der lesbischen Lovestory „Blau ist eine warme Farbe“ überaus freizügig agierte.
Kontrolle und Isolation
Ein Spiel um Abhängigkeit und Macht, das der (Anti-)Held letztendlich verliert. Während seine beiden Partner sich langsam mit ihren neuen Gegebenheiten arrangieren, entgleitet dem Manipulator die Kontrolle. Fassungslos steht er zuletzt alleine da - und da hat man fast Mitleid mit ihm.
Ein folgerichtiges Finale in einem konsequent durchdeklinierten Werk. Sorgsam gestaltet in Sachen Ausstattung, bestens verortet in der der Seine-Metropole, deren unbekanntere Ecken Kamerafrau Josée Deshaies („Die Frau meines Bruders“) in wunderbar warmen Farben einfängt. Ein prototypisches MUBI-Projekt, mal sinnlich, mal nüchtern, mal tragisch, mal komisch, aber stets nachvollziehbar und lebensnah.
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