Mannheim. Als Sulaiman A. vor fast fünf Monaten erstmals darüber sprach, wie er loszog, um auf dem Mannheimer Marktplatz zu töten, war der größte Sitzungssaal des Oberlandesgerichts in Stuttgart-Stammheim bis auf den letzten Platz gefüllt. Da waren Polizeibeamte, eine Schulkasse, Islamkritiker und Journalisten. Sulaiman A. berichtete ihnen allen, wie er auf Michael Stürzenberger losging und im Laufe des Attentats realisierte, dass es ihm nicht gelungen war, Stürzenberger zu ermorden. Dann sagte er einen Satz, den wahrscheinlich niemand, der an diesem Tag im Gerichtssaal war, je vergessen wird. Er sagte: „Ich habe gedacht: Heute muss jemand sterben.“
Dieser Satz unterstreicht einerseits die martialische Brutalität des Verbrechens, andererseits stellt er auch den einzigen Erklärungsversuch für Sulaiman A.s Angriffe auf die Opfer dar, die auf Michael Stürzenberger folgten. Bis zum Ende des Verfahrens ist unklar geblieben, warum er fünf weitere Menschen mit dem Messer attackierte, obwohl seine Attacke doch zunächst „nur“ Michael Stürzenberger gelten sollte.
Neben diesem verletzte Sulaiman A. zwei Mitglieder des rechtspopulistischen Vereins Bürgerbewegung Pax Europa (BPE), einen BPE-Sympathisanten, einen Mann, der an diesem Tag zufällig in Mannheim war, und den Polizisten Rouven Laur, der seinen schweren Verletzungen kurz nach der Tat erlag.
Verteidiger fordern lebenslange Haftstrafe ohne Feststellung der besonderen Schwere der Schuld
Mitte August haben Sulaiman A.s Verteidiger ihre Plädoyers gehalten und eine lebenslange Haftstrafe für ihren Mandanten gefordert – ohne die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, die Anordnung der Sicherungsverwahrung oder ihren Vorbehalt.
Beide sind dabei auch auf das Motiv ihres Mandanten zu sprechen gekommen. Einerseits auf das übergeordnete, das islamistische Motiv. Rechtsanwalt Axel Küster aus Wiesbaden hat am Donnerstag Argumente und Gegenargumente für die „Feststellung der besonderen Schwere der Schuld“ abgewogen. Dabei sprach er über das islamistische Motiv seines Mandanten, ein Motiv, das „in höchstem Maße verwerflich“ sei.
Dass Sulaiman A. sich im Internet radikalen Inhalten zuwandte und irgendwann aus islamistischen Motiven heraus den Entschluss fasste, den Islamkritiker Stürzenberger zu töten, ist längst bekannt. Der Senat hat während der vergangenen Monate mithilfe mehrerer Experten eine Vielzahl von Chats des Angeklagten aufgearbeitet. Neben einer Nachricht, in der Sulaiman A. darüber gesprochen haben soll, dass Polizisten, die mit „gottlosen Regierungen“ zusammenarbeiten sogenannte „taghut“, Götzendiener, seien, waren vor allem die Telegram-Nachrichten wichtig, die Sulaiman A. mit dem islamistischen Einflüsterer „OR“ ausgetauscht haben soll.
Dieser soll maßgeblich zu A.s Radikalisierung beigetragen haben, seine Identität gilt bis heute als ungeklärt. Diesen „OR“ soll Sulaiman A. gefragt haben, ob jeder Muslim Ungläubige töten dürfe. Und eine der wohl wichtigsten Passagen dieser Chats, in denen „OR“ Sulaiman A. zu Gewalttaten motivierte, lautete: „Egal, wo ihr sie erwischt – in ihrer eigenen Wohnung, in ihren Schulen – macht ihnen diesen Ort zur Hölle“.
Plante Sulaiman A. also wirklich „nur“ einen Angriff auf Michael Stürzenberger? Sicher, der genaue Tatablauf war, wie Küster betonte, nicht vorhersehbar. Wie viele Menschen sich vor A. stellen würden, um Stürzenberger zu helfen, konnte Sulaiman A. nicht absehen, ebenso wenig, dass es zwei Männern gelingen sollte, ihn zu packen. Und auch nicht, dass ein Passant die Situation offenbar falsch einschätzen und ihm zur Befreiung verhelfen würde. Warum stach er aber auf die Männer ein, die ihn kurzzeitig fixiert, aber schließlich längst losgelassen hatten? Wieso ging er hinterrücks auf den Polizisten Rouven Laur los, der den Passanten gerade am Boden fixierte?
Was bedeutet der Satz „Heute muss jemand sterben“ ganz konkret? Der zweite Verteidiger des Angeklagten, Mehmet Okur aus Darmstadt, spricht am Freitag von einer spontanen Handlung. „Aus diesen Sätzen geht eindeutig hervor, dass der Angeklagte just in diesem Moment einen weiteren Tötungsvorsatz fasste.“
Islamistische Szene bejubelte den Mord an Rouven Laur
Nur, weil in einem der Chats der Begriff des „taghut“, des Götzendieners, vorkomme, könne man nicht einfach darauf schließen, dass der Angeklagte vor oder während der Tat den Entschluss gefasst habe, einen Polizisten zu töten, weil er ihn als Beschützer des islamkritischen Aktivisten und als Repräsentanten der Bundesrepublik angesehen habe, sagt Okur. Ohnehin habe die Diskussion über diesen Chat nur wenig Raum während des Prozesses eingenommen.
Ganz unplausibel erscheint die Interpretation, die auf einen gezielten Angriff hinweist, jedoch nicht. Mitte März hatte ein Islamwissenschaftler, der das Internet und das Dark Web für das Bundeskriminalamt regelmäßig nach radikalen islamistischen Inhalten screent, in Stuttgart-Stammheim über das Echo der islamistischen Szene auf das Messerattentat gesprochen.
Er berichtete von Menschen, die in den dunklen Ecken des Internets den Mord an dem jungen Polizisten bejubelten und den Angreifer als einen feierten, der die „Herzen der Gläubigen geheilt“ habe. In der Szene beschrieb man einen Polizisten, der Kundgebungen dieser Art schütze und sich vor Einzelpersonen stelle, die den Islam verunglimpfen, als Teil eines verachtenswerten Systems und als „Handlanger“.
Und so lässt sich auch ganz am Ende des Prozesses nicht eindeutig beantworten, warum Rouven Laur sterben musste. Eine eindeutige Antwort darauf kann nur der Angeklagte geben. Am 15. September, einen Tag vor der geplanten Urteilsverkündung, hat er letztmalig die Gelegenheit dazu. Dann, wenn der Senat ihm für das letzte Wort noch einmal die Möglichkeit eröffnet, zu sprechen.
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