Mannheim. Menschen, die als Nebenkläger in Strafprozessen auftreten, haben weniger Pflichten und weniger Rechte als die Staatsanwaltschaft oder die Verteidigung. Und es gibt Fälle, da verhallen ihre Rufe – nach Aufklärung, nach Genugtuung. Für den Prozess um das Mannheimer Messerattentat gilt das nicht. Was die Nebenkläger und ihre Anwälte am Dienstag, am Tag der Plädoyers zu sagen hatten, wird lange nachklingen.
Zunächst, weil ihre Sätze berühren. Tief berühren.
„Ich will, dass Rouvens Mörder weiß, welches Leid er meiner Familie und mir zugefügt hat“
Vor allem das, was Eve Laur, die Schwester des getöteten Polizisten Rouven Laur, an diesem Prozesstag zu sagen hat. „Ich möchte Rouven heute ein letztes Mal eine Stimme geben und beschreiben, was für ein besonderer Mensch er war“, sagt sie. „Ich will, dass Rouvens Mörder weiß, welches Leid er meiner Familie und mir zugefügt hat.“
Eve Laur spricht zunächst über die Beziehung zu ihrem Bruder, der im Laufe ihres Lebens zu einem ihrer engsten Vertrauten wurde. Sie beschreibt ihn als intelligenten und großherzigen Menschen. Auf Rouven konnte sie immer zählen, sagt sie. Als sie umzog, sei er der erste gewesen, der ihr seine Hilfe angeboten habe. Er habe immer an sie geglaubt, auch wenn sie selbst ins Zweifeln geriet.
Dann kreist ihr Bericht um den 31. Mai 2024. Sie zeichnet den Tag nach, an dem auf ihrem Handy eine Push-Nachricht aufploppte, ein Messerangriff in Mannheim. Und wie sie wenig später das Video sah, nicht ahnend, dass der Polizist, in dessen Körper das Messer fuhr, ihr eigener Bruder war.
Weil sie wusste, dass ihr Bruder Rouven im Umlaufverfahren für den höheren Dienst war, erwartete sie nicht, dass er bei dem Einsatz auf dem Marktplatz dabei sein würde. Doch dann meldete sich ihre Mutter, sie schrieb ihr: „Auf dem Video rufen die Polizisten Rouvens Namen“.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Eve Laur machte sich mit Freunden auf den Weg nach Mannheim. Und während der Wagen, in dem Eve Laur saß, Kilometer um Kilometer nach Mannheim fuhr, kämpften Ärzte in Mannheim um sein Leben, operierten ihn stundenlang. Eve Laurs Schwester und ihre Mutter hielten sie im Wechsel auf dem Laufenden. Und dann, eine Stunde vor Ankunft, auf einem Rastplatz, erhielt sie die Nachricht, die ihr Leben für immer verändern sollte. „Meine Schwester sagte mir, dass Rouven vermutlich nicht überleben wird.“ Vor Gericht beschreibt Eve Laur, wie sie zusammensackte, die Luft dünner wurde. Und sie nur noch eins wollte: aufwachen, aus diesem Albtraum.
„Rouven war für immer gegangen“
Bis heute höre sie die Stimme des Arztes, der ihre letzten Hoffnungen begrub, als er der Familie später im Uniklinikum sagte, dass Rouven sterben würde.
Am Abend durfte die Familie dann zu ihm. „Er sah aus, als würde er friedlich schlafen“, sagt Eve Laur. Die ganze Nacht wachten sie und ihre Mutter an seinem Bett, sagt sie. Die Frauen sprachen mit ihm, in der Hoffnung, irgendwie werde er das, was sie ihm noch zu sagen hatten, verstehen. Da gab es so vieles, vor allem eins: „Ich habe ihm gesagt, wie stolz ich auf ihn bin.“ Sie spielten ein Lied für ihn, eins, das er immer mit seinem Vater gehört hatte und das sie später auch für seine Trauerfeier auswählen sollten: „These Days“ von den Foo Fighters.
Eve Laur beschreibt vor Gericht, wie sie die Hand ihres Bruders hielt, während das Leben aus ihm wich. Und wie sie schrie, nach seinem Tod. Als sein Körper erkaltete und die Leichenflecken erschienen. „Rouven war für immer gegangen.“
In den Tagen danach, da sei ihr Bruder überall in den Nachrichten gewesen. Das sei einerseits überwältigend, positiv, andererseits schwer zu ertragen gewesen. Wie die Erkenntnis, dass Rouven für die Welt nur der im Einsatz getötete Polizist gewesen sei. „Für mich war er so viel mehr“, sagt sie. Und getrieben von diesen Gedanken setzte sich Eve Laur damals an die Rede für die Trauerfeier, die zeigen sollte, was für ein Mensch Rouven Laur gewesen war.
Eve Laur spricht vor Gericht über die Urnenbeisetzung in der Familie, wie sie ein letztes Mal Kleidung für ihren Bruder aussuchte, ehe er verbrannt wurde. Ihr gesamtes Erwachsenenleben hinweg hatte sie ihn in Kleidungsfragen beraten. Das tat sie noch einmal für ihn. Und sog seinen Duft, der noch an den Kleidern haftete, in sich auf.
Dann erzählte sie vor Gericht, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter die Urne zu Rouven Laurs Grab trug, fassungslos darüber, dass ihr Bruder in diesem Gefäß sein sollte. „Er war immer so lebendig und groß und stark.“
Rouven war kein Opfer, er war ein Mensch voller Leben, voller Liebe, voller Gerechtigkeit – und jetzt ist er weg.
Ohne Rouven fühle sich ihr Leben schwerer, leerer, sinnloser an, sagt die Schwester des getöteten Polizisten. Alles, was sie tue, werde von der Tat überschattet. Der Gedanke daran, wie grausam und sinnlos Rouven aus dem Leben gerissen wurde, wie hilflos und schutzlos er im Moment des Angriffs gewesen sei, quäle sie, sagt sie. „Es wirkte, als wollte der Mörder Rouven nicht nur töten, sondern vernichten – seinen Körper, sein Leben, alles, was er war.“
Dann kreist ihr Bericht um den Angeklagten, um einen Menschen, der aus Afghanistan geflüchtet sei, um in Deutschland Schutz und Sicherheit zu finden. „Und dann bringt er diese Grausamkeit mit, vor der er selbst geflohen ist.“
Ihr Bruder habe diesem Land gedient, und ausgerechnet jemand, der hier Zuflucht gesucht habe, nahm ihm das Leben. Ihm, Rouven Laur, dem „geborenen Polizisten“.
„Rouven war kein Opfer, er war ein Mensch voller Leben, voller Liebe, voller Gerechtigkeit – und jetzt ist er weg.“
Nach Rouven Laurs Tod erreichten die Familie unzählige Zuschriften. So erzählt es Petra Laur vor Gericht. Darunter Briefe von Angehörigen von Polizeibeamten, Beileidsbekundungen von Menschen, die aus Afghanistan nach Deutschland gekommen sind und die Tat verurteilen. Auch die Postkarte eines Obdachlosen war unter den Zuschriften. Der Mann schrieb der Familie, Rouven Laur habe ihm ab und an etwas Geld gegeben. Und weiter: Er habe so sehr weinen müssen, als er von dessen Tod erfuhr.
Der Schmerz, den sie als Mutter über den Verlust ihres Sohnes fühle, sei unbeschreiblich. Manchmal, wenn sie einen jungen Mann sehe, der Rouvens Haarfarbe, seine Statur hat, warte sie darauf, dass er sich umdrehe. Und dann übermanne sie die Erkenntnis: „Mein Sohn ist tot, er wurde ermordet. Er kommt nie wieder.“
Der Angeklagte habe Rouven Laur alles genommen, all seine Pläne, die beruflichen Träume, die Chance, Vater zu werden.
Bei ihrer letzten gemeinsamen Begegnung saß Rouven Laur mit seiner kleinen Nichte im Hängesessel, sagt Petra Laur. Das kleine Mädchen schaukele heute so hoch sie könne, weil ihr Onkel im Himmel sei.
Islamkritiker Michael Stürzenberger wendet sich an Familie Laur
Islamkritiker Michael Stürzenberger, das eigentliche Ziel des Angriffs, sagt an diesem Prozesstag: „Wenn ich nur ansatzweise geahnt hatte, dass so etwas drohen könnte, hätte ich niemals zusammen mit meinen Freunden von der Bürgerbewegung Pax Europa eine Kundgebung in Mannheim organisiert.“ Zeitweise spricht er direkt die Familie Laur an, vor allem die Mutter des getöteten Polizisten, sichtlich angefasst. Später dann ereifert er sich wieder über den „politischen Islam“.
Video des Messerattentats in Mannheim: „Öffentlicher Akt tödlicher Gewalt“
Die Plädoyers in diesem Prozess zeigen aber auch, wie unser Rechtsstaat mit einem Verbrechen wie dem Mannheimer Messerattentat umgeht. Es markierte den Beginn einer Reihe von Anschlägen, die zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Gesellschaft in Deutschland führten und über die sich eine vergiftete Migrationsdebatte entspann.
Das Video von dem Verbrechen ging um die Welt und wurde so zu einem „öffentlichen Akt tödlicher Gewalt“, sagt der Anwalt der Schwestern von Rouven Laur, Wolfram Schädler. Gleichzeitig spielte es eine wichtige Rolle in dem Prozess gegen Sulaiman A., der Mitte Februar vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim seinen Anfang nahm. „Bereits zu Beginn – manchmal offen, manchmal nur unterschwellig – wurde der Vorwurf laut, angesichts dieses Videos wisse man doch längst, was geschehen sei“, sagt Schädler. Es gab Menschen, die forderten einen kürzeren Prozess.
„Wer aber dem Senat Tag für Tag in seiner umfangreichen und vielschichtigen Beweisaufnahme gefolgt ist, dem hat sich ein völlig anderes Bild erschlossen“, sagt Schädler. Während des Prozesses habe der Senat herausgearbeitet, wie lebensverändernd der 31. Mai 2024 für viele Menschen gewesen sei. Für Polizistinnen und Polizisten, Ärztinnen und Ärzte sowie Menschen aus dem Umfeld des Angeklagten.
Lange und bohrend, unnachgiebig seien die Fragen des Senats während der Beweisaufnahme gewesen, sagt Schädler. Und der Angeklagte habe das aushalten müssen, die Konfrontation mit diesen Fragen und diesen Menschen, die seinetwegen gelitten haben und bis heute leiden.
„Diese geduldige und ausführliche Beweisaufnahme hat ein Mosaik geschaffen, ein Gesamtbild von der Tat. Dieses Bild wurde vor allem einem gerecht: Rouven Laur“, sagt Schädler.
Und doch fand Schädler auch kritische Worte für das Gericht. Er zeigt sich tief enttäuscht darüber, dass einer der wichtigsten Zeugen der Tat, nicht gehört wurde: „eine der Schlüsselfiguren“, „der Mann, ohne den der Mord an Rouven Laur nicht geschehen wäre.“
Wochenlang hatte Schädler dafür gekämpft, dass ein Zeuge, der in das Tatgeschehen eingriff und dem Attentäter dadurch zur Befreiung verhalf, vor Gericht erscheint. Doch gegen Ende des Prozesses lehnte der Senat seinen Beweisantrag ab und blieb Schädler eine umfassende Begründung schuldig. Während des Verfahrens war zunächst von einer psychischen Erkrankung des Zeugen die Rede, dann wollte der Senat ihm ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht einräumen. Den Antrag lehnte es ab, weil das, was Schädler mit der Befragung bezweckte, schon längst bewiesen sei, hieß es.
„Gewiss, die Wahrheit hat ihre Grenze, sie darf nicht um jeden Preis erforscht werden. Aber eine Grenze, die nicht benannt wird, ist keine. Wer einen Zeugen nicht vernimmt, weil der Preis der Wahrheitserforschung zu hoch erscheint, muss auch sagen, worin dieser Preis besteht – und wie hoch er wirklich ist. Das aber ist hier völlig offengeblieben“, sagt Schädler am Dienstag.
Während die Bundesanwaltschaft eine lebenslange Haftstrafe und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld beantragte, fordert die Mehrheit der Nebenkläger zudem die Anordnung der Sicherungsverwahrung oder ihren Vorbehalt, ihre Prüfung vor Aussetzung der Strafe zur Bewährung.
Der juristische Rahmen, in dem sich die zu erwartende Strafe bewegt
Der Anwalt der Eltern von Rouven Laur, Thomas Franz aus Ketsch, beschreibt in seinem Plädoyer den juristischen Rahmen, in dem sich die Strafe bewegt, die Sulaiman A. zu erwarten hat. Nach deutschem Strafrecht käme bei Mord ausschließlich die lebenslange Freiheitsstrafe in Betracht. Entgegen dem Wortlaut „lebenslang“ könne aber bereits nach 15 Jahren ein Antrag zur Aussetzung der Strafe zur Bewährung gestellt werden, dies sei allerdings kein Automatismus. In Extremfällen könne die Haftzeit sich über fünf Jahrzehnte erstrecken, grundsätzlich ist sie für einen unbegrenzten Zeitraum angelegt.
Eine vorzeitige Haftentlassung zur Bewährung nach 15 Jahren gilt als nahezu ausgeschlossen, wenn ein Gericht die besondere Schwere der Schuld feststellt. Eine anderes Gericht legt dann fest, wie viele weitere Jahre vergehen müssen, ehe ein Verurteilter den Antrag zur Aussetzung seiner Strafe zur Bewährung stellen kann.
Unabhängig davon könne die lebenslange Freiheitsstrafe mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung kombiniert werden, die nicht an die Schuld des Verurteilten, sondern an dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit anknüpft, sagt Franz. Während die Sicherungsverwahrung im Falle von zeitlich begrenzten Haftstrafen bedeutet, dass ein Verurteilter nach dem regulären Ende in Gefangenschaft bleibt, aber komfortablere Haftbedingungen bekommt, sei dies bei lebenslangen Haftstrafen komplizierter. Dann gilt laut Franz: Wird der Verurteilte auf Bewährung in die Freiheit entlassen, wird die Sicherungsverwahrung vereinfacht gesagt umgewandelt. Der Verurteilte kommt frei, wird aber intensiver und gegebenenfalls auch länger überwacht.
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