Bergstraße. Ohne Abstand und ohne Masken wurde der erste Fastnachtsumzug nach der Corona-Pause in Heppenheim gefeiert – jedenfalls ohne jene Gesichtsläppchen, die man sich zur Gewährleistung der viralen Sicherheit hinter den Ohren befestigt.
Die Lust an der Verkleidung war groß in der Kreisstadt, wo sich der traditionelle Tross um 14.11 Uhr in Bewegung setzte. Trotz dunkler Wolken blieb es trocken, von ein paar hasenfüßig versprenkelten Tröpfchen einmal abgesehen. Noch eine Stunde zuvor waren am Straßenrand die Schirme aufgespannt worden.
Vorglühen und aufwärmen am Straßenrand
Doch die feuchte Vorahnung der Skeptiker erfüllte sich nicht. Zwischenzeitig ließ sich sogar die Sonne blicken, als Zugmarschall Norbert I. (Weiser) vor dem Komitee in der Kutsche durch die Straßen rollte – gefolgt von über 90 weiteren mehr oder weniger prunkvollen Wagen, Bodentruppen und Musikkapellen.
Rund um die Mozartstraße, wo sich die Teilnehmer aufgestellt hatten, herrschte rege Betriebsamkeit bereits lange vor dem Startschuss. Vorglühen und aufwärmen war angesagt, wenngleich sich die Temperaturen bei rund zwölf Grad auf einem für Mitte Februar milden Niveau eingependelt hatten. Da schmeckte auch das Eis am Stiel, das ausgiebig von den Wägen flog – natürlich wie immer aus Heppenheimer Herstellung im allseits beliebten Magnum-Format.
Von der Weststadt ging es Richtung Zentrum bis an die Festmeile am Graben, wo der „Spass uff de Gass“ als Open-Air-Party ungemindert weitergehen konnte. Obwohl der Zug unter dem Motto „Kerstin die Paragraphenreiterin“ stand, bezogen auf die Juristin und Schirmherrin Kerstin Fuhrmann, hatte Justitia an diesem besonderen Tag keineswegs frei.
Eine Verfügung aus dem Rathaus untersagte mitgebrachten Alkohol und „das Mitführen von Glasbehältern“ auf der Festmeile. Entlang der Zugstrecke gab es weder Kontrollen noch Einschränkungen flüssiger Art, dennoch blieb die Atmosphäre – an unserem Standpunkt jedenfalls – friedlich und einigermaßen harmonisch. Auch Gerangel um süße Wurfgeschosse oder andere Giveaways wurden nicht beobachtet.
Nach Vorgängerinnen wie Hedwig Vock und Christine Bender reiht sich Kerstin Fuhrmann in die weibliche Führungsriege ein, die bislang das höchste Amt der Heppenheimer Straßenfastnacht innehatte. Motto: „In dubio prosecco“. Denn die Rechtsanwältin gehört zu den „Proseccoschneggen“ des SV Erbach, die am Sonntag einen der ersten Plätze des Umzugs erobert hatten. Ob das Zufall, Wohlwollen oder das Ergebnis einer juristischen Klage war, blieb offen. Die Freundinnen des italienischen Perlweins jedenfalls tanzen nach Corona-Pause wieder schwungvoll wie zuvor.
Newsletter "Guten Morgen Bergstraße"
Frau Ehrenzugmarschall Barbara Schaab fuhr (im Piratenschiff) übrigens ebenso mit wie Bürgermeister Rainer Burelbach und Landrat Christian Engelhardt, die sich mit weiteren Vertretern der politischen Kaste den Gildewagen teilten. An politischen Statements und frecher Obrigkeitsschelte war der bunte Wurm allerdings recht arm, wenngleich es mehr als genügend Anlässe gegeben hätte. Doch wahrscheinlich hatte die Freude an der wieder ungezügelten Narretei das kritische Kommentieren auf die hinteren Ränge der Umzugs-Hitparade verdrängt: Lebenslust und Geselligkeit standen eindeutig im Mittelpunkt.
Aber immer schön aufpassen, dass man keinen gefrorenen Klotz im gelblichen Schokomantel an die Birne bekommt: am besten fangen, aufessen oder einem nebenstehenden Kind überreichen, das mit Appetit und gähnend leeren Vorratstaschen am Bordstein lauert.
Buchstäblich süß war die Idee einer lokalen Dentaltechnik-Praxis, die auf Schönheitseinbußen mangels Mundhygiene aufmerksam machte („Ohne Zähne siehste ganz schön alt aus!“), während eine Karies-Figur kiloweise Bonbons in die Menge warf.
Kundenbindung nennt man das wohl. Unter den optisch ansprechenden Nummern ragten die Heppenheimer Schwellköpp, ein VW Käfer mit Aufziehschlüssel des Zugkomitees sowie die Hutzelschweizer mit einem Motivwagen zu den „Goldenen Zwanzigern“ heraus, des 20. Jahrhunderts wohlgemerkt. Das Team vom Blumenland Herdt rollte als Minions im Bananenlook mit, reichte allerdings lieber frische Schnittblumen ins Volk.
Aber natürlich waren auch die berüchtigten Narren aus der Bergsträßer Nachbarschaft in Heeresstärke vertreten. Die Lorscher schickten unter anderen die Bürgerfunken – im 55. Jubiläumsjahr – und die Rock’n Rabbits in die Kreisstadt.
An eine Schonzeit ist nicht zu denken, denn der Lorscher Umzug rollt bereits am morgigen Dienstag. Aus Bensheim marschierte die BKG mit, aus Zwingenberg der Karnevalverein Narrhalla, dahinter folgten die Hambacher Fastnacht und die Garden und Ballett-Formationen der Fasnachtsgesellschaft Bottschlorum.
„Die wo aa immer debei sin“ (DWAIDS) hatten einen mobilen Zirkus gezimmert und eine Konfettikanone geladen. Und nach dem Ausstieg vom schnellsten Heppenheimer überhaupt scheint sich der Erste (und sicherlich auch letzte) Sebastian-Vettel-Fanclub eine neue Aufgabe zu suchen: „Unser Auto fährt mit Äbbelwoi.“
Winzerjugend mit Bier
Stark vertreten war der Weinbau. Die Bensheimer Winzerjugend sattelte einen Tag lang auf Bier um, die Heppenheimer Jungwinzer warben für den „Starke Borsch“, der bereits 1937 kreiert worden ist und einst als Landwein angeboten wurde.
Heute heißt so ein Riesling in der gleichnamigen Straußwirtschaft im ehemaligen Verkaufsraum der Bergsträßer Winzer eG. Und hinter Fidelio versteckt sich kein Gesangverein, sondern eine pilzwiderstandsfähige Rebsorte, die das Heppenheimer Weingut Freiberger neu im Sortiment hat.
Neben mehreren Guggemusik-Formationen sorgten die Spielmannszüge der großen Fastnachtsgesellschaften sowie der Musikverein Starkenburg für den richtigen Rhythmus auf der Straße, während der Narrennachwuchs donnernde Bässe aus der Konserve zu bevorzugen scheint. Die Teilnehmer aus Hemsbach (Stehtischfreunde), Kirschhausen, Hambach, Ober-Laudenbach und Erbach sorgten für eine wahrlich süffiges Hinterteil des Heppenheimer Umzugs, der beinahe lückenlos von Zuschauern gesäumt war.
Wer nicht mit dem Rad, dem Roller oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist war, der fand auf dem nahen Europaplatz mehr als ausreichend Parkmöglichkeiten, um per pedes innerhalb von kaum zehn Minuten in die Weststadt zu gelangen. Viele Besucher von außerhalb nutzten die Freifläche gern, die am Sonntag dauerhaft und kostenlos zugänglich war.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/region-bergstrasse_artikel,-bergstrasse-heppenheimer-umzug-zieht-ausgelassen-durch-die-strassen-_arid,2052902.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/heppenheim.html