Bergstraße. Amelie Berger steht in der Weststadthalle in Bensheim und blickt nach oben auf die voll besetzte Tribüne. Die 26 Jahre alte Handball-Bundesligaspielerin der Flames ballt aber nicht die Faust und jubelt, so wie sie es sonst macht, wenn sie mal wieder von Rechtsaußen den Ball über die gegnerische Torhüterin geschlenzt hat. Dieses Mal ist etwas anders. Berger trägt einen Pullover, schaut konzentriert und hält ein Mikrophon in der Hand, während das Publikum stillsitzend wartet. Dann spricht sie über die wohl schwierigste Phase in ihrer Laufbahn als Leistungssportlerin: die Zeit beim Bundesligaclub Borussia Dortmund, in der sie als eine von vielen Spielerinnen psychische Gewalt erfahren hat.
Der Wortbeitrag der Olympia-Teilnehmerin und Nationalspielerin ist Teil der Kampagne „Anwurf in Südhessen – Gemeinsam für Kinder- und Jugendschutz in Sportvereinen“. Zusammen mit der Polizei in Südhessen haben die Flames, die Bundesliga-Mannschaft der HSG Bensheim/Auerbach, am Dienstagabend in der Weststadthalle Präventionsmaßnahmen für den Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen vorgestellt.
Eine Millionen Kinder in Deutschland von sexuellem Missbrauch betroffen
Viele Vereine und Initiativen haben sich der Kampagne angeschlossen und waren in der Halle vertreten, darunter: das Bündnis Safe Kids der Sportjugend Hessen, das Jugendamt im Kreis Bergstraße, die Beratungsstelle Pro Familia, das Frauenhaus Darmstadt, die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Odenwaldkreises sowie das Netzwerk gegen Gewalt des Landes Hessen. Außerdem informierte die Fachberatungsstelle Wildwasser aus Darmstadt mit einem Stand, die eine Außenstelle in Bensheim an der Promenadenstraße hat.
Der Verein ist eine professionelle Beratungseinrichtung für Mädchen und Frauen, die von sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Jugend betroffen sind oder waren. Bereits seit einigen Jahren gibt es vermehrt Aufklärungsarbeit, unter anderem mit der Präventionskampagne „Brich dein Schweigen“, die 2022 von der Polizei Hessen ins Leben gerufen wurde. Zudem steigen die Zahlen der angezeigten Fälle von Kindesmissbrauch seit Jahren. Was allerdings nicht heißt, dass es früher weniger Missbrauchsfälle gegeben hat. „Wir glauben, dass die Zahl auch schon davor hoch war“, sagte Sozialarbeiterin Simone Holz-Lurg vom Verein Wildwasser und verwies im Gespräch mit dem Bergsträßer Anzeiger auf die hohe Dunkelziffer.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind in Deutschland etwa eine Million Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Das entspricht mindestens einem Kind in jeder Schulklasse. Zudem ist davon auszugehen, dass heute jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland mal sexuelle Gewalt in seiner Kindheit erlebt hat, wie der Kinderarzt Markus Freff in seinem Vortrag erläuterte.
Häufig kommen Übergriffe dort vor, wo eigentlich Vertrauen herrschen sollte: im Sportverein. Freff verwies auf eine Studie der Deutschen Sporthochschule Köln und der Bergischen Universität Wuppertal aus dem Jahr 2022. Darin gaben etwa drei Viertel der Befragten an, vor ihrem 18. Lebensjahr mindestens einmal Erfahrung mit interpersonaler Gewalt gemacht zu haben. Darunter fällt: psychische Gewalt (zum Beispiel Demütigung durch den Trainer), körperliche Gewalt (Schlagen, Treten), sexualisierte Gewalt mit und ohne Körperkontakt (Übergriffe, sexualisierte Bemerkungen) und Vernachlässigung (unzureichende medizinische Versorgung, fehlendes Essen oder Trinken). Zugleich machte der Mediziner aber auch Hoffnung und sagte, dass Traumata therapiert werden könnten, wenn sie nicht durch eine Fehldiagnose wie ADHS überdeckt würden.
Im Ernstfall ist es wichtig, Betroffenen früh zu helfen
Ein Grund dafür, dass Kinder besonders häufig betroffen sind: Sie sind oft machtlos. Manfred Burkart, Leiter der Abteilung Einsatz beim Polizeipräsidium Südhessen, sagte, dass sich ein Kind sieben Mal äußern müsse, bevor es Aufmerksamkeit bekomme. „Auch wenn Kinder eine Stimme haben, werden sie oft nicht gehört.“ Kinderarzt Freff zitierte eine Betroffene: „Wenn dir als Kind nicht geholfen wird, dann lernst du zu schweigen.“
Als Amelie Berger psychische Gewalt bei Borussia Dortmund erlebte, war sie zwar schon älter, stand aber immer noch am Anfang ihrer Laufbahn. 2021 wechselte sie zu Borussia Dortmund, da war Berger 21 Jahre alt und im Rückblick „jung, ehrgeizig und naiv“, wie sie selbst sagte. „Ich habe nur die Chance gesehen, Champions League zu spielen.“ Viele in der Mannschaft hätten wohl gedacht, dass die Demütigung des Trainers zum Leistungssport dazu gehöre.
Beratungsstellen auf einen Blick
- Wildwasser (Telefon: 06251 7057 885)
- Profamilia (Telefon: 06251 82675-30)
- Traumafachambulanzen
- Darmstädter Hilfeberatung für Opfer und Zeugen in Südhessen
- Kinderschutzbund
- Erziehungsberatung
- Caritas
- Weißer Ring
- Weitere Informationen unter www.missbrauch-verhindern.de oder www.hilfeportal-missbrauch.de
In der ersten Saison in Dortmund war Berger zwar selbst kaum davon betroffen, aber als im folgenden Sommer viele Spielerinnen den Club verließen, geriet sie ins Visier des Trainers. Der Verein habe ihn geschützt, erzählte Berger. „Man hat das Gefühl, man steht komplett alleine da.“ Erst durch die Unterstützung ihrer Eltern, einer Mitspielerin und der Agentur „Anlauf gegen Gewalt“ hat Berger dann den Mut gefunden, sich aus dem Machtmissbrauch zu befreien und den Weg an die Öffentlichkeit zu gehen. In den Wochen danach meldeten sich immer mehr Spielerinnen, die ebenfalls Vorwürfe gegen den Coach erhoben, am Ende waren es mehr als 50 Personen. „Der sportliche Erfolg stand über dem Wohl der Spielerinnen“, sagt Berger. Die studierte Psychologin plädiert für eine neutrale Person als Ansprechpartner in den Vereinen. „Sport sollte uns stärken, nicht brechen.“ Es waren die vielleicht persönlichsten Worte des Abends, die zugleich Hoffnung gaben. Denn Sportvereine können auch eine heilende Wirkung entfalten.
„Vorboten der Eskalation“ frühzeitig erkennen
Der Sozialarbeiter Ingo Droll aus Ludwigshafen erzählte, wie er seine Pflegetochter Birgit, die von den leiblichen Eltern vernachlässigt worden war, im Alter von sieben Jahren bei sich aufnahm. Später meldete er sie im Sportverein an, in dem sie nach anfänglichen Schwierigkeiten aufblühte. Zugleich erinnerte Droll aber auch an die Gefahren, die traumatisierten Kindern dort begegnen können. „Im Sport kann man getriggert werden“, sagte er. Erlebnisse aus der Vergangenheit können also beim Sport wieder hervorgerufen werden. Droll verwies auf das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, als der Franzose Zinédine Zidane durchdrehte und dem italienischen Gegenspieler Marco Materazzi einen Kopfstoß verpasste, nachdem dieser seine Schwester beleidigt hatte.
Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, die „Vorboten der Eskalation“ frühzeitig zu erkennen, wie Droll referierte. Eine angespannte Körperhaltung und geballte Fäuste können zum Beispiel auf „Kipppunkte“ im Verhalten hindeuten. Traumata können aber auch das Gegenteil bewirken und dazu führen, dass Kinder eine Sprachblockade bekommen und sich kaum noch artikulieren können. Auch Taubheitsgefühl kann eine Folge sein. Droll berichtete von einem Förderschullehrer, der ihm erzählt habe, dass er traumatisierte Kinder im Winter daran erkenne, dass sie im T-Shirt auf die Straße gingen.
Die Polizeikommissarinnen Emily Eilers und Lana Pietsch gaben den etwa 250 Zuschauern im Publikum Tipps, wie bei Verdacht auf eine Sexualstraftat zu reagieren ist: Emotionale Aktionen und Panik sollten vermieden werden, gleichwohl gilt es aber auch, mögliche Schilderungen immer ernst zu nehmen. Im Zweifel können sich Betroffene und ihr Umfeld auch anonym an Beratungsstellen (siehe Kasten) wenden. Sensibel sollten Eltern bei ihren Kindern auch im Umgang mit sozialen Medien sein. Auf Plattformen wie Snapchat, Instagram oder Tiktok verbringen Jugendliche meist mehrere Stunden am Tag. Täter versuchen sich zunächst, online das Vertrauen der Minderjährigen zu erschleichen und sie später, wenn ihnen sensible Bilder zugeschickt wurden, damit zu erpressen.
Für viele junge Frauen und Mädchen ein großes Vorbild
Kriminaloberkommissar Johannes Emanuel Hofmann, der die Veranstaltung moderierte, wies auf weitere Präventionsangebote hin. Gerade bei vielen jungen Fans haben die Polizisten den Ruf, Verbrechern auf die Spur zu kommen. Das ist zwar nicht falsch und trägt sicherlich auch zum spannenden Berufsbild bei, aber: „Uns ist die allerliebste Straftat die, die gar nicht passiert“, sagte Hofmann, und knüpfte die Verbindung zu den Sportvereinen. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher 90 Minuten im Fußballtraining ist, sind das 90 Minuten, in denen er nicht am Bahnhof abhängen kann.
Amelie Berger ist ihrem Sport trotz der in Dortmund erlebten psychischen Gewalt treu geblieben. Mit den Flames hat sie einen Verein gefunden, in dem sie sich wohlfühlt und für den sie nun schon die vierte Saison spielt. Vor wenigen Wochen wurde sie zudem gemeinsam mit Lisa Friedberger zur Kapitänin für diese Spielzeit ernannt. Damit hat sie sich nicht nur zu einer Führungsspielerin entwickelt. Spätestens seit ihrem Weg an die Öffentlichkeit und ihren Schilderungen von Dienstagabend ist sie auch abseits des Sports für viele junge Frauen und Mädchen: ein großes Vorbild.
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