Bergstraße. Es ist eine Mischung aus Alarmsignal, letztem Weck- und Hilferuf, das Landrat Christian Engelhardt (CDU) und Kreisbeigeordneter Matthias Schimpf (Grüne) am Freitag von Heppenheim aussenden. Adressaten: Der Bund und die EU, aber auch die Kommunen und letztlich die Bevölkerung.
„Die Situation bei der Aufnahme von Geflüchteten wird zunehmend kritischer. Aus meiner Sicht versagen sowohl die Bundesregierung als auch die EU darin, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass wir vor Ort unsere Integrations- und Versorgungsaufgaben wahrnehmen können“, erklärte Engelhardt bei einem Pressegespräch im Landratsamt.
Die Lage sei fordernder als 2015, was bei manchen noch nicht angekommen sei. Damals kamen innerhalb eines Jahres etwas weniger als 1000 Geflüchtete in den Kreis Bergstraße, 2022 waren es (mit den Menschen aus der Ukraine) über 4000. Diese kämen aus den verschiedensten Gründen hier an und träfen auf eine Situation, in der die Integration der Menschen aus 2015/16 noch nicht erfolgreich abgeschlossen sei.
Ein „Versagen des Staats“
Eine Herausforderung sei nicht nur die Anzahl, sondern dass ein ganzer Teil keine Bleiberechtsperspektive habe. Noch dazu seien sie ungleich in Europa verteilt. Hinzu kommt, dass „unser Staat darin versagt, diejenigen auszuweisen, die nach der Rechtslage nicht bleiben können. Sie werden nach langen Verfahren de facto hier geduldet“, kritisierte der Landrat.
Vor allem personell, aber auch finanziell und räumlich habe man deutlich eingeschränkte Möglichkeiten, diese Menschen zu integrieren. Aus der alles in allem „unbefriedigenden Situation“ ergeben sich für die Verwaltungsspitze einige Forderungen an die Europäische Union und besonders an die Bundesregierung.
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So müsse die Last der Aufnahme von Geflüchteten in Europa fairer verteilt werden. „Wir brauchen zweitens schnellere Verfahren, damit die Leute, die kein Recht auf Aufnahme haben, zügiger wieder zurückgeführt werden“, konstatierte Engelhardt. Dadurch könne man sich dann mit den Maßnahmen auf diejenigen konzentrieren, die voraussichtlich dauerhaft in Deutschland bleiben - um sie in der Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Darüber hinaus brauche es Optionen, um Wohnraum zu schaffen. Das bedeutet, auch die Debatte über die Ausweisung von Bauland zu ändern. Diese sei zurzeit stark davon geprägt, keine weiteren Flächen zu verbrauchen. Im Kreis müssten einige Tausend Menschen Wohnraum finden - das sei ein ganzer Ort im Odenwald, meinte Engelhardt exemplarisch. „Wir müssen Bauland ausweisen, um Wohnraum zu schaffen.“
Hohe Kosten, wenig Personal
Der Bund sollte, so eine weitere Forderung, aus Sicht des Landrats zwingend darauf achten, die Anreizsysteme im Blick zu haben. Momentan habe man einen relativ starken Anreiz, um aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen. „Wir finanzieren die Geflüchteten relativ hoch. Das führt unter anderem dazu, dass wir eine relativ hohe Quote von Menschen haben, die keinen Bleibeanspruch haben.“
Die besten Chancen für eine dauerhafte Integration böten sich, wenn nur die Personen bleiben, die vor Krieg, Vertreibung oder Verfolgung geflohen sind, um die man sich aus humanitären Gründen kümmere. „Dann können wir unsere eigentliche Aufgabe als Kreis wahrnehmen: Dafür zu sorgen, dass sie hier dauerhaft so ankommen können, dass unsere Zukunftsfähigkeit, unsere Gesellschaft nicht darunter leidet.“
Kreisbeigeordneter Matthias Schimpf verdeutlichte, wie schwierig es ist, für passende Unterbringungen zu sorgen. Allein das Wegziehen aus Gemeinschaftsunterkünften stelle ein Problem für viele da, weil sie keine Wohnungen finden. „Die Teilnahme an der Gesellschaft findet nicht nur über Sprache und Arbeit statt, sondern ebenso über selbstbestimmtes Wohnen.“
Wenn es diese Möglichkeit nicht geben, müssten diese Menschen permanent in den Gemeinschaftsunterkünften wohnen, was letztlich keine gute Perspektive ist, vorsichtig formuliert. Andererseits habe man im Kreis 500 Flüchtlinge, deren Schutzquote relativ gering ist. „Es gab mal die Zusage des Landes, dass nur die zugewiesen werden, die eine Bleiberechtsperspektive haben. Von der damaligen Aussage ist wenig geblieben“, moniert Schimpf.
Kosten für die einfachste Betreuung mit Bett und Catering
Diese 500 Personen binden allerdings Kapazitäten bei der Unterbringung und der personellen Betreuung, zusätzlich zu den finanziellen Aspekten. 1000 belegte Plätze in der Zeltstadt auf dem Festplatz am Berliner Ring in Bensheim kosten im Monat mehr als 800 000 Euro. Wenn sich dort 500 Menschen aufhalten, die rechtlich abgeschoben werden müssten, koste diese Gruppe allein für Unterkunft und „einfachste Betreuung“ (Schimpf) mit Bett und Catering, aber ohne sozialpädagogischen Ansatz, 400 000 Euro monatlich.
Dadurch könne man keinerlei Ressourcen mehr steuern für diejenigen, die bleiben dürfen und die man zügig und gut in die Gesellschaft integrieren könnte. „Es ist aber nicht nur eine Frage des Geldes. Wir finden dafür kein Personal mehr“, erläuterte der Kreisbeigeordnete. Umso notwendiger sei es, die knappen personellen und räumlichen Möglichkeiten so einsetzen, dass die notwendigen Aufgaben bewältigt werden können. Aufgrund der Rahmenbedingungen gelinge es nicht mehr, dem Integrationsauftrag nachzukommen. Im Grunde würden alle gleich wenig integriert oder betreut. Das sei eine fatale Situation.
Bisher hat der Kreis die Unterbringung zentral übernommen, was er nicht hätte tun müssen. Die Rechtslage gibt vor, die Geflüchteten an die Kommunen weiterzureichen pro Woche. Und genau dies soll nun auch ab Mai oder Juni dieses Jahres geschehen, weil die Kapazitäten erschöpft sind. Eine entsprechende Vorwarnung mit der Bitte um Unterstützung ging schon im November an die Rathäuser, die Rückmeldungen seien eher verhalten gewesen.
Neben den Zelten in Bensheim, einer weiteren Unterkunft in Groß-Rohrheim (ehemalige Känguru-Insel) soll es maximal eine weitere Einrichtung für bis zu 500 Bewohner geben - allerdings findet man hierfür aktuell weder eine Fläche noch eine Immobilie.
Im Frühsommer greift dann die sogenannte Direktzuweisung. „Wir haben keine Möglichkeiten mehr für größere Unterkünfte. Jetzt kommt es auf das kommunale Wissen mit den örtlichen Begebenheiten an.“ Für Schimpf ist es allerdings wichtig zu betonen, dass der „Kreis Bergstraße auch an seiner Spitze ein emphatischer Kreis ist. Selbstverständlich verstehen wir diejenigen Menschen, die, egal aus welchen Gründen, ihre Heimat verlassen und woanders leben möchten.“
Kreisbeigeordneter Matthias Schimpf (Grüne): „Entwerten das Asylrecht“
Es müsse jetzt aber nach der Rechtslage gehen, sonst „entwerten wir das Asylrecht und das Recht auf Unterbringung von Geflüchteten, weil wir diese Aufgabe aufgrund der Masse und derjenigen, die zu Unrecht hier sind, nicht mehr erfüllen können“. Zumindest dem Kreis dürften daher nur noch Personen zugewiesen werden, die eine Bleiberechtsperspektive haben. Und allein dies stelle sich schon als eine große Herausforderung dar.
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