Bergstraße. Möchte ein blinder oder sehbehinderter Mensch eine Straße überqueren, dann gibt es verschiedene Hilfen, die das sicher ermöglichen sollen. Im Optimalfall steht dort eine akustische Ampel. Wenn nicht, sind Noppen und Linien auf dem Boden eine wichtige Orientierung. In der Umgebung des Hauses von Stephan Wilhelm in Einhausen stehen keine Ampeln, aber an vielen Straßen und Kreuzungen befinden sich die Noppen, Aufmerksamkeitsfelder genannt, und die Linien, die Leitstreifen. Wilhelm kam mit der Augenkrankheit grüner Star auf die Welt. Trotz Operationen konnte nicht verhindert werden, dass er seit 2000 keine Sehkraft mehr hat.
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Wilhelm erklärt bei einem Spaziergang wie er sich orientiert. Er nutzt mit seinem Langstock die Tipp-Technik. Er tippt in einem zügigen Rhythmus auf den Gehweg und sucht immer die Kante des Gehwegs. So schafft er es, nicht aus Versehen auf die Straße zu laufen. „Das ist aber auch viel Übung. Die Technik muss man lernen und schwierig wird es immer dann, wenn der Bürgersteig keine richtige Kante mehr hat.“ Wie Wilhelm weiter erklärt, ist es bei flachen Gehwegen, ohne richtige Kante, vor allem im Winter bei Schneefall eine Herausforderung nicht zufällig auf die Straße zu geraten.
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Auch Autospiegel sind für Wilhelm ein Hindernis. Das Auto ertastet er mit seinem Langstock, aber er kann natürlich nicht sehen, wie weit der Spiegel herausragt. Auch Blumenkübel können zum gefährlichen Hindernis werden. Wilhelm lobt aber die Gemeinde Einhausen für die Maßnahmen, die sie für blinde oder sehbehinderte Menschen ergreift. Denn tatsächlich: An fest jeder Kreuzung in dem Wohngebiet sind die Noppen und Linien zu finden. Auch wenn die Aufmerksamkeitsfelder und Leitstreifen an manchen Stellen nicht über den kompletten Gehweg angelegt sind – so wie es vorgeschrieben ist, dass Blinde die Markierungen auch wirklich wahrnehmen.
Poller als lebensgefährliches Hindernis für Blinde
Zudem stellen Poller für Blinde ein großes Problem dar. Zum Beispiel an der Brücke über die Weschnitz an der Ludwigstraße. Hier hat die Gemeinde zwei Poller auf den Gehweg gesetzt. Doch auch bei richtiger Handhabung seines Stockes läuft er gegen diese Pfosten. Er könnte straucheln, stürzen und schlimmstenfalls auf die Fahrbahn fallen. Er beschwerte sich bereits , bekam vom Ordnungsamt aber die Antwort, dass die Straße an der Stelle nicht breit genug ausgebaut sei und die Gefahr bestehen würde, dass LKW und Busse auf den Gehweg ausweichen könnten. Mit den Pfosten sollen Fußgänger geschützt werden. Diese Anordnung wäre gemeinsam mit der Polizei, Hessen Mobil und der Kreisverkehrsbehörde getroffen worden. „Mich schützen die Poller nicht, für mich sind sie eine Gefahr,“ so Wilhelm.
Eine große Herausforderung sind auch E-Autos: „Wenn sie kein AVAS haben, habe ich an einer Straße mit normalen Geräuschen kaum eine Chance die Fahrzeuge zu hören.“ Mit dem Acoustic Vehicle Alerting System (AVAS) sollen E-Autos bei niedrigen Geschwindigkeiten deutlicher zu hören sein. Seit Juli 2021 müssen alle neu zugelassenen Elektroautos solche künstliche Geräusche erzeugen. Ältere Fahrzeuge müssen nicht nachgerüstet werden.
Nach seinen Wünschen gefragt, antwortet der 73-Jährige, der seit 1989 in Einhausen lebt, dass er gerne flächendeckend Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfelder, die korrekt verlegt sind, hätte. „Ich kann mich nur da alleine bewegen, wo ich mich auch auskenne. Und selbst das erfordert hohe Konzentration von mir. Wenn auf einmal irgendwo Baustellen sind, dann brauche ich Umwege, auf denen ich mich orientieren kann.“
Barrierefreie Angebote des Bergsträßer Anzeigers
Der Bergsträßer Anzeiger bietet derzeit zwei barrierefreie Angebote. Nutzer können sich im Web und in der News-App eine Auswahl von Artikeln vorlesen lassen. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Schriftgröße entsprechend der eigenen Bedürfnisse anzupassen – auch in der News-App. Doch dabei soll es nicht bleiben. In Arbeit ist derzeit der sogenannte Darkmode oder Dunkelmodus. Außerdem wird momentan geprüft, inwiefern die Vorlesefunktion ausgeweitet werden kann. Über die Website läuft dazu auch eine Befragung der BA-Leser, ob sie sich wünschen, mehr Nachrichten vorgelesen zu bekommen. red
Bensheim hat fast überall akustische Ampeln
Auch in Bensheim gibt es viele Maßnahmen für blinde und sehbehinderte Menschen. Hier ist Erika Theiss unterwegs, die in der Innenstadt zeigt, wo sie sicher fühlt und welche Stellen gefährlich für sie sind. Theiss hat noch ein wenig Rest-Sehkraft, gilt aber als blind. Sie erklärt an der Ampel, wo der Sehende (das Handsymbol) und wo der Sehbehinderte (der unten angebrachte Knopf) drückt. Mit dem akustischen Signal weiß Theiss ganz genau wann und wo sie die Straße überqueren kann. „Bensheim hat nahezu flächendeckend akustische Ampeln, das ist wirklich toll und damit ist die Stadt gut aufgestellt. Schade ist nur, dass es Ampeln gibt, die nach 20 Uhr kein akustisches Signal mehr abgeben. Und das ist natürlich gefährlich für mich. Und ich möchte ja auch nach 20 Uhr sicher auf der Straße unterwegs sein.“
Aufmerksamkeitsfelder teilweise falsch verlegt
An vielen Straßenquerungen sind auch in Bensheim Aufmerksamkeitsfelder und Leitstreifen angebracht, aber sie sind teilweise fehlerhaft verlegt. Die Streifen zeigen in die falsche Richtung oder fehlen ganz: „Nur die Aufmerksamkeitsfelder, also die Noppen, sind zu wenig und die Leitstreifen zeigen mir ja auch, wo ich lang muss,“ erklärt Theiss.
Am Nibelungenbrunnen kann es richtig gefährlich werden: „Die Treppenstufen sind farblich nicht markiert. Das heißt, dass Menschen die wenig Sehkraft haben und deshalb keinen Stock nutzen, die Stufen nicht wahrnehmen und heftig stürzen können.“ Generell wünscht sich Theiss mehr kräftige Farben – auch für Fahrradständer, die zum gefährlichen Hindernis werden können. „Ich weiß, dass das Verbot der Werbe-Reiter in der Bensheimer Innenstadt bei der Gastronomie nicht gut ankam, aber für uns waren die Aufsteller eine Stolperquelle.“ Auch unachtsam abgestellte E-Scooter seien ein Problem im Alltag in der Stadt. Im Bereich der Fußgängerzone gibt es übrigens keine Leitstreifen, hier orientiert sich Theiss unter anderem an den Abdeckungen über den Abwasserkanälen.
Erika Theiss ist stellvertretende Leiterin der Bezirksgruppe Darmstadt-Südhessen des Blinden- und Sehbehindertenbundes Hessen (BSBH). Schätzungen zufolge gelten in diesem Bezirk rund 1600 Menschen als blind oder sehbehindert. Blind ist man, wenn man über 2 Prozent Sehkraft oder weniger verfügt.
Theiss würde sich wünschen, dass bei Baumaßnahmen der BSBH miteinbezogen wird. Denn barrierefrei heißt nicht nur, dass Rollstuhlfahrer ein Gebäude nutzen können: „Ein blinder Mensch oder ein Mensch mit anderen Beeinträchtigungen hat andere Bedürfnisse als ein Mensch im Rollstuhl.“
Ein Inklusionsbeirat für Bensheim ist der Wunsch
Und Barrierefreiheit betrifft auch Apps und andere digitale Angebote. Ab 28. Juni 2025 müssen nach dem Barriefreiheitsstärkungsgesetz Apps und Webseiten barrierefrei sein, sprich: Inhalte müssen zum Beispiel von einem Screenreader erfasst werden können. Für Bilder sollen dann auch Beschreibungen angegeben werden. Theiss würde sich in Bensheim einen Inklusionsbeirat wünschen, der sich um die Belange von Menschen mit Behinderungen kümmert. Bislang gibt es eine Behindertenbeauftragte, das ist für Theiss in Bensheim aber nicht genug: „Vor allem wenn man bedenkt, dass statistisch zehn Prozent der Menschen eine wie auch immer ausgeprägte Behinderung oder Einschränkung haben.“
Ein Thema für einen solchen Beirat hat Theiss bereits: „Auf Festen ist es für Sehbehinderte, und nicht nur für uns, schwer, an eine für uns lesbare Speise- oder Getränkekarte an einem Stand zu kommen. Zum einen wäre es toll, wenn solche Karten – auch von Restaurants – generell vorab auf einer Webseite abrufbar wären. Dann könnte ich mir in Ruhe etwas aussuchen. Oder auch ein gut erreichbarer QR-Code zum abscannen wäre zum Beispiel eine große Hilfe.“
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