Zwingenberg. Tausende Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden in den Jahren 1940/41 im Rahmen der sogenannten T4-Aktion in den Gaskammern der Tötungsanstalt Hadamar in Mittelhessen und in fünf weiteren „NS-Euthanasie“-Tötungsanstalten systematisch ermordet. In den Folgejahren ging das Morden durch „Tötungsärzte“ und teils durch Anstaltspersonal während der „dezentralen Euthanasie“ auf unterschiedliche Weise mittels tödlicher Injektionen (Giftspritzen), vorsätzlichen Verhungernlassens und Mangelernährung sowie überdosiert verabreichter Medikamente bis zur Befreiung durch die US-Soldaten am 26. März 1945 weiter. Allein in der Tötungsanstalt Hadamar wurden mehr als 14 000 Menschen umgebracht. 380 Menschen konnten die Amerikaner seinerzeit in Hadamar retten.
Die obligatorische Todesnachricht – wenn überhaupt – an die Familien anhand gefälschter Sterbeurkunden lautete in etwa, „Ihr Sohn, der an einer schweren, unheilsamen geistigen Krankheit litt, ist verstorben. Sie müssen den Tod als Erlösung betrachten.“
Justiz zeigte kaum Interesse
Das Interesse der deutschen Justiz in der Nachkriegszeit an der Aufklärung der Krankenmorde der „NS-Euthanasie“ in Hadamar, an den Tätern und den Berichten der Überlegenden, vorwiegend aus sogenannten „Rückstellungen“, bezeichnet der Kulturwissenschaftler Christoph Schneider als „extrem gering. Ein Trauerspiel.“ Er nennt es ein „35 Jahre andauerndes aktives Vergessen“ und spricht von „historischer Verspätung“ und „unsichtbar machen“, weiter von „Missachtung, Ignoranz gegenüber den Überlebenden und Opfer“, von „Schweigen und Scham.“
Newsletter "Guten Morgen Bergstraße"
Allerdings gibt es einige Dokumente, Briefe und Vernehmungsprotokolle, die Schneider gesichtet und darüber ein Buch mit dem Titel „Hadamar von innen“ – aus der Perspektive der Opfer. Überlebenszeugnisse und Angehörigenberichte“ geschrieben hat. Auf Einladung des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge sprach der Historiker im Saal des Alten Amtsgerichts über die Verbrechen, die hinter den Mauern der Tötungsanstalt Hadamar begangen wurden und ließ Opfer und Angehörige zu Wort kommen.
Verbrechen waren bekannt
Wie beispielsweise Theophil Henning, dem es 1942 gelang, mehrere, an seinen Freund gerichtete Postkarten, aus der Anstalt zu schmuggeln. „Es sterben hier bald mehr Menschen als Soldaten auf dem Felde“, heißt es da. Henning schildert auf anschauliche Weise den Alltag der Patienten, die unter anderem als Leichenträger herhalten und Gräber ausheben mussten und die die unterschiedlichsten handwerklichen Arbeiten zu verrichten hatten.
„Es gab einen enormen Austausch der Bevölkerung von Hadamar mit den Patienten der Tötungsanstalt“, so der Buchautor. Von Geheimhaltung der Verbrechen könne also keine Rede sein. Eine weitere Überlebende aus Hadamar, Charlotte Hoffmann, habe sich nach Kriegsende an die US-Militärbehörde und die Staatsanwalt Frankfurt gewandt und von „Morden am laufenden Band“ berichtet. „Sie sah viel, berichtete viel und erinnerte sich viel“, so Schneider. Ohne große Resonanz.
Keine Strafe für die meisten Täter
Für die meisten Täter blieb das Morden hingegen ohne Konsequenzen. Lediglich 25 Angeklagten wurden im Februar/März 1947 in Frankfurt der Prozess gemacht. Dabei kam es zu elf Verurteilungen. Zwei Todesärzte erhielten lebenslängliche Freiheitsstrafen. Einer von ihnen beging Suizid, der Zweite, der Todesarzt Gorgoß, wurde im Nachhinein vom hessischen Ministerpräsidenten Zinn mit der Begründung, „dass alle anderen doch längst wieder draußen sind“ begnadigt und kam auf freien Fuß.
Als Zeugen vor Gericht waren überlebenden Opfer, die aufgrund ihrer Behinderung als asozial oder minderwertig und wenig glaubwürdig angesehen wurden, hingegen unerwünscht. Mit Ausnahme von Klara Schröder. So wurden Beteiligte an Krankenmorden für die von ihnen begangenen Verbrechen nicht etwa verurteilt, sondern machten stattdessen Karriere.
Erst in den 1980 Jahren hat demnach in „langsamen Schritten“ die Aufarbeitung für die Geschichte der „NS-Euthanasie“ begonnen. Nur wenige der überlebenden Zeitzeugen brachten allerdings den Mut auf, aus der Anonymität heraus zu treten und in der Öffentlichkeit über die Mord-Maschinerie zu berichten. Es sind Friedrich Zawel, Elvira Manthey, Paul Brune, Ruth Preissler und Anna-Marie Treutel-Gennrich.
„Zwischenlager“ Heppenheim
In der an den Vortrag anschließenden, lebhaft geführten Diskussion gab es unter anderem Fragen aus dem Publikum zur ehemaligen „Heil- und Pflegeanstalt“ Heppenheim, einem „Zwischensammellager“ für psychisch Kranke aus der ganzen Region und jüdische Patienten, die Ende der dreißiger/Anfang der vierziger Jahre für Weitertransporte in Tötungsanstalten selektiert und anschließend ermordet wurden. Später wurde die Anstalt vollständig geräumt und von der Wehrmacht zu einem Lazarett für Kriegsgefangene umfunktioniert.
Eine Besucherin berichtete von ihrer Erfahrung als Heilerziehungspflegerin für behinderte Menschen und von Anfeindungen, Ressentiments und Vorurteilen aus der Bevölkerung. Hingegen sei man bei einem gemeinsamen Aufenthalt einer Gruppe von Behinderten in Spanien „sehr herzlich behandelt und aufgenommen worden.“
Fahrt zur Gedenkstätte Hadamar
Am Ende der gut besuchten Veranstaltung informierte Ulrike Jaspers-Kühnhold, zweite Vorsitzende des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge, über eine Fahrt zur Gedenkstätte Hadamar mit Führung. Die Fahrt findet am Sonntag, den 21. April statt. Es stehen 22 Plätze in zwei Kleinbussen zur Verfügung. Abfahrt ist um 11 Uhr am Melibokusparkplatz. Interessierte können sich per Email anmelden: info@arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/zwingenberg_artikel,-zwingenberg-nazi-verbrechen-vortrag-_arid,2186989.html