Zwingenberg. Die Zwingenberger SPD hatte auch in diesem Jahr zum Weltfrauentag am 8. März zu einem Vortrag ihrer Fraktionsvorsitzenden Regina Nethe-Jaenchen eingeladen. Thema der gut besuchten Veranstaltung im Saal des Alten Amtsgericht war die jüdische SPD-Politikerin Jeanette Wolff (1888 bis 1976), die während der NS-Zeit in mehreren Konzentrationslagern fast ihre gesamte Familie verlor. Sie selbst überlebte diese Zeit nur mit viel Glück und unbändigem Überlebenswillen.
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Jeanette Wolff, geborene Cohen, entstammt einer jüdischen Familie aus dem westfälischen Bocholt. Als Sozialdemokrat darf ihr Vater seinen Beruf als Lehrer nicht ausüben. Über die katastrophalen Lebensbedingungen der Bocholter Textilarbeiter berichtet Jeanette Wolff in ihren Erinnerungen, aus denen Regina Nethe-Jaenchen mehrfach zitierte.
Schon früh engagiert sich Jeanette Cohen in der SPD und in jüdischen Organisationen. 1910 heiratet sie Hermann Wolff, drei Töchter werden geboren. Das Ehepaar betreibt gemeinsam eine Textilfirma, in der bereits 1912 der Acht-Stunden-Tag eingeführt wird. Im Ersten Weltkrieg leitet Jeanette Wolff die Firma.
Erste jüdische Stadtverordnete
1919 wird sie als erste jüdische Frau Stadtverordnete in Bocholt. 1933 wird sie für zwei Jahre in sogenannte Schutzhaft genommen, die Familie verliert Haus und Firma. Nach ihrer Entlassung betreibt Jeanette Wolff in ihrer Wohnung eine Pension für Juden, die in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 völlig verwüstet wird.
In ihren Erinnerungen beschreibt sie die Schrecken dieser Nacht. Hermann Wolff kommt ins KZ Sachsenhausen und kehrt als gebrochener Mann zurück. In einem sogenannten Judenhaus lebt die Familie unter beengten Verhältnissen. 1939 kommt die jüngste Tochter wegen eines verbotenen Kinobesuchs in Schutzhaft, anschließend ins KZ Ravensbrück, wo sie 1944 ermordet wird.
Im Januar 1942 wird die Familie ins Ghetto Riga deportiert. Nach der tagelangen Zugfahrt in ungeheizten Waggons werden Kranke und Schwache ermordet, alle anderen müssen unter entsetzlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten.
In ihren Erinnerungen schildert Jeanette Wolff die furchtbaren Zustände im Ghetto und später im KZ Kaiserwald. Die Gefangenen sind Hunger und ständiger Gewalt ausgesetzt, junge Frauen auch sexueller Gewalt. Viele Häftlinge sterben an Typhus und Ruhr. Arbeitsunfähige und Kinder werden ermordet. Mitte 1944 werden arbeitsfähige Häftlinge ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig gebracht, Jeanette Wolffs älteste Tochter dort durch Giftgas ermordet. Ihr Mann wird im April 1945 auf einem Todesmarsch erschossen. Jeanette Wolff und ihre verbliebene Tochter werden 1945 von russischen Soldaten befreit und kehren nach Deutschland zurück.
Zehn Jahre im Bundestag
In Berlin wird Jeanette Wolff 1946 Stadtverordnete der SPD, von 1951 bis 1961 ist sie Bundestagsabgeordnete. Sie kämpft für die Entschädigung von NS-Opfern, kritisiert die schleppende NS-Strafverfolgung und den schnellen Wiederaufstieg von Juristen und Offizieren der NS-Zeit in der Bundesrepublik. Bereits 1955 warnt sie: „An der Schwäche der Demokratie erstarken diese Kreise.“
Auch beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde und in verschiedenen jüdischen Organisationen ist sie aktiv. Für ihr Engagement wird sie mehrfach ausgezeichnet, 1967 mit dem Bundesverdienstkreuz. Jeanette Wolff stirbt 1976 und wird in einem Ehrengrab beigesetzt. Ihr Grabstein trägt die Inschrift: „Eine Frau ausstrahlender Anmut durch ihre Taten“. red
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