Zwingenberg. Aus dem Wingert, aber nicht aus der Traube. Vom Rebstock, aber ein Wein ist es nicht. Mit sortenspezifischen Aromen, aber ohne eine einzige Beere. Um diese Aschenbrödel-artige Rätselei gleich abzukürzen: Es geht um Weinblätter. Ein internationales Forschungskonsortium will die Vorteile von an den Klimawandel angepassten Rebsorten nutzen, um daraus neuartige alkoholfreie Getränke herzustellen. Sie sollen ähnlich komplex sein wie ein Wein, bestehen aber nur aus speziell behandelten Blättern und Trieben.
Das Projekt „Sustainable Beverages“, kurz SUSBev, ist Teil des Innovationsraums Bioökonomie im Ballungsraum (BioBall) und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit Jahresbeginn mit rund 745.000 Euro gefördert. Ziel von BioBall ist es, die stoffliche Nutzung von biogenen Rest- und Abfallstoffen zu fördern – und das unter den besonderen Bedingungen der dicht besiedelten und industrialisierten Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main.
Wissenschaftlicher Koordinator des Konsortiums ist die in Zwingenberg ansässige Brain Biotech AG. Partner sind das Beratungsunternehmen Tropical Viticulture Consultants (TVC) und die Provadis Hochschule. Die Beteiligten investieren aber auch eigene Mittel in das Projekt. Brain steckt einen mittleren sechsstelligen Betrag in die zweijährige Forschungs- und Testphase. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung nachhaltiger Getränke und Lebensmittel auf der Basis landwirtschaftlicher Seitenströme.
In diesem Fall werden Reststoffe als Basis der Getränkeherstellung eingesetzt, die bislang kaum eine Verwendung fanden. Denn nicht nur die Trauben, auch die bislang meist ungenutzten Blätter und Triebe des Rebstocks enthalten attraktive und sortenspezifische Aromen, die sich zur Herstellung gesunder und schmackhafter Getränke eignen, so die Molekularbiologin Alice Kleber. In Zwingenberg ist die Forscherin in der Anwendungstechnologie tätig. Die Wissenschaftlerin ist von den bisherigen Ergebnissen aus dem Labor begeistert. „In den Blättern steckt eine Menge Potenzial, das wir nutzen können. Für uns eine interessante und spannende Ressource.“
Für eine nachhaltigere Weinwelt im Kontext des Klimawandels
Der Anbau von neu gezüchteten, klimastabileren Sorten hat den Vorteil, dass Winzer seltener Pflanzenschutzmittel einsetzen müssen. Man spricht dabei von pilzwiderstandsfähigen Rebsorten oder Piwis. Weil sie weniger gespritzt werden, sind die Blätter zum Verzehr geeignet. Und die Winzer, die sie anbauen, werden immer mehr. Auch an der Hessischen Bergstraße.
Bislang arbeiten die Forschungspartner mit dem Biobetrieb von Eva Vollmer in Rheinhessen zusammen, der stark auf robuste Neuzüchtungen setzt. Die Winzerin aus Mainz ist Initiatorin der Winzervereinigung Zukunftsweine GmbH (ZW), die ebenfalls dem Konsortium angehört und sich für eine nachhaltigere Weinwelt im Kontext des Klimawandels engagiert. Konkret für mehr Piwis. Ihr Anteil an der Gesamtrebfläche in Deutschland beträgt derzeit rund drei Prozent. Bislang werden sie meist als Teil von Cuvées genutzt, also in Kompositionen aus verschiedenen Rebsorten.
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Die zentrale Aufgabe der Brain Biotech AG innerhalb dieses Projekts ist die Selektion und Optimierung von geeigneten Mikroorganismen als Starterkulturen, die bei der Fermentierung der Blätter zum Einsatz kommen werden. Dafür kann das Unternehmen auf eine langjährige Expertise in der Bioprozesstechnik und der Mikrobiologie zurückgreifen. Außerdem geht es um die Entwicklung geeigneter Prozesse im Labormaßstab und von Prototypen für die Nutzer der Methode.
Die Übertragung der Ergebnisse sowie die nötigen Praxistests werden die Experten von ZW und TVC übernehmen. Die Provadis Hochschule wird abschließend für die verschiedenen Prozessvarianten eine Lebenszyklusanalyse zur Abschätzung der Umweltwirkung sowie eine technisch-ökonomische Analyse erstellen. Die Dramaturgie ist ein klassischer Meilensteinplan mit klar verteilten Aufgaben und einer gemeinsamen Zielsetzung.
Um die praktische Herangehensweise im Labor zu verstehen, muss man sich die Herstellung eines Tees vorstellen. Zunächst geht es um einen Aufguss aus Kulturpflanzen, den man Infusion nennt. Auf diese Weise haben die Wissenschaftler Bestandteile aus den Weinblättern herausgelöst, um ihr Potenzial für ein Genussmittel zu erkennen. Die ersten Proben waren vielversprechend, so Alice Kleber. Doch als „weinig“ konnte man das Ergebnis nicht bezeichnen.
Dann haben die Forscher einen natürlichen Gärprozess eingeleitet: Durch lebende Mikroorganismen – hier spezielle Hefekombinationen – werden die im pflanzlichen Ausgangsmaterial enthaltenen Bestandteile verstoffwechselt. Dabei sollen die Hefen den Zucker aber nicht vollständig in Alkohol umwandeln, denn das fertige Getränk soll als „alkoholfrei“ deklariert werden. In Deutschland bedeutet das, dass maximal 0,5 Volumenprozent Alkohol enthalten sein dürfen.
Es geht also darum, die für die Fermentation idealen Hefekulturen zu entdecken und nutzbar zu machen. Aber auch Versuche mit unterschiedlichen Rebsorten könnten den Wissenschaftlern Aufschluss darüber geben, welche Blätter sich für einen nachhaltigen Trinkgenuss am besten eignen. Bisher diente die 1987 gezüchtete Piwi-Sorte Muscaris als Arbeitsmaterial. Auch Experimente mit zwecks Haltbarkeit eingefrorenen Blättern sind bereits erfolgt. Bislang haben sehr junge Pflanzenteile die positivsten, aromatisch intensivsten Ergebnisse geliefert.
Die Idee hinter dem ganzen Aufwand ist, dass Brain Biotech interessierten Weingütern die Mittel an die Hand gibt, um aus ihren Weinblättern über eine ausgeklügelte Fermentationstechnologie Getränke selbst herstellen und so ihr Produkt-Portfolio nach Belieben erweitern zu können. Der Betrieb erwirbt eine Lizenz und kann die Methode vor Ort nutzen, für die ein Patent bereits in greifbarer Nähe ist, wie es aus dem Unternehmen heißt.
Biologisches Recycling par excellence
Der Vorteil für den Winzer liegt darin, dass er unbehandeltes Naturmaterial ökonomisch ertragreich verwenden kann, das er ohnehin schon besitzt. Das ist biologisches Recycling par excellence. Und weil das Entblättern der Rebzeilen im Frühsommer zum besseren Belüften der Trauben (eine qualitätssteigernde Maßnahme im Weinberg) nicht mit der Lese im Herbst kollidiert, ist dieser wirtschaftliche Seitenstrom auch logistisch gut zu bewerkstelligen. „Der Winzer kennt seinen Weinberg am besten“, so Alice Kleber. Und damit auch den idealen Zeitpunkt, wann er welche Blätter für sein neues Produkt nutzen kann.
Um das Getränk ohne Hilfe von Alkohol zu stabilisieren, könnte man es pasteurisieren, um eine weitere Gärung in der Flasche durch verbliebene Weinhefen zu verhindern, und unerwünschte Keime abzutöten, erläutert die Expertin aus den Brain-Labors. Noch allerdings steckt das Projekt in einer frühen Phase, für weitere qualitative und methodische Details und Verfahrensschritte brauche es noch eine Menge Forschungsarbeit. Fest steht schon jetzt, dass man dem neuen Drink so wenige Zusatzstoffe wie möglich zusetzen möchte.
Auch, wenn es kein Wein wird: Die Rebenkultur gibt die Richtung vor. Wahrscheinlich bald auch an der Hessischen Bergstraße. Gespräche mit regionalen Betrieben stehen dick auf der Agenda.
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