Bahnhofstraße

Stolperschwelle erinnert an die frühere Synagoge in Lorsch

Vor dem Haus Nummer 10 hat Gunter Demnig einen Gedenkstein verlegt. 55 kleinere Stolpersteine gibt es bereits in Lorsch.

Von 
Nina Schmelzing
Lesedauer: 
Heimat- und Kulturvereinsvorsitzender Thilo Figaj (r.) und Bürgermeister Schönung übernahmen die Ansprachen, Künstler Gunter Demnig setzte die Stolperschwelle, die mit einem längeren Messingband versehen ist, über die Synagoge informiert. © Zelinger

Lorsch. Die jüdische Gemeinde in Lorsch, nachweisbar seit 1725, war nie sehr groß. Zur Hochzeit, Ende des 19. Jahrhunderts, hatte sie 110 Mitglieder. Sie galt jedoch als vergleichsweise wohlhabend. Die Lorscher Juden hatten jedenfalls eine moderne Synagoge. Vor genau 140 Jahren errichteten sie ihr neues Gotteshaus – noch bevor die Steinsynagogen in Heppenheim und Bensheim gebaut wurden. Wo aber befand sich das Lorscher Gebäude, das die Nationalsozialisten im November 1938 zerstörten? Eine sogenannte Stolperschwelle macht jetzt in der Innenstadt auf den Standort aufmerksam.

Immer wieder die Frage, wo die Synagoge einst stand

Es ist nicht so, dass bislang ein Hinweis gefehlt hätte. Auf einer kleinen Tafel an dem Haus in der Bahnhofstraße Nummer 10 kann man die Information zur Historie nachlesen. Dennoch werde die Frage, wo denn in Lorsch eine Synagoge gestanden habe und ob es denn überhaupt eine gegeben habe, immer wieder gestellt. Das berichtet Thilo Figaj, Vorsitzender des Lorscher Heimat- und Kulturvereins und Kenner der jüdischen Regionalgeschichte.

Zusätzlich zur Tafel gibt es jetzt auch im Gehweg eine Erinnerung an die jüdische Gemeinde. Zusammen mit der Stadt Lorsch hat der Heimat- und Kulturverein dafür gesorgt und dazu erneut Gunter Demnig eingeladen. Der Künstler ist durch die Verlegung von Stolpersteinen bekannt geworden. Europaweit hat er bereits mehr als 100 000 Gedenksteine verlegt. Sie erinnern – platziert direkt vor den Wohnungen, aus denen Juden von den Nationalsozialisten vertrieben wurden oder fliehen mussten – an die Namen und Schicksale der Opfer.

Fitnessstudio, Drogerie, Optiker

Die Bahnhofstraße ist gut frequentiert und liegt mitten in der Innenstadt. An der Adresse Nummer 10 war in der jüngeren Vergangenheit unter anderem ein „Schlecker“-Drogeriemarkt zu finden. Später nutzte ein Fitnessstudio die Räumlichkeiten. Jetzt ist ein Optikerfachgeschäft dort ansässig.

Wer mehr über die Synagoge erfahren will, sollte die Dokumentationsstätte Landjudenschaft in Lorsch besuchen, die 2023 im Alten Schulhaus eröffnet wurde. Dort zeigt ein Kurzfilm eine 3D-Rekonstruktion. Die Stätte in Trägerschaft des Heimat- und Kulturvereins ist mittwochnachmittags geöffnet. sch

In Lorsch hat Demnig im Laufe der vergangenen zehn Jahre 55 Stolpersteine gesetzt und damit für alle jüdischen Bürger, die in der NS-Zeit vertrieben wurden. Am Donnerstag kam die deutlich größere Stolperschwelle als Abschluss dazu. Wie die Steine so ist auch die Schwelle mit einer Messingplatte versehen. In der Bahnhofstraße ist ein Vierzeiler eingraviert: „Hier standen seit 1725 die Synagogen der jüdischen Gemeinde Lorsch. Die zweite, erbaut 1884, wurde am 10. November 1938 durch Brandstiftung zerstört“.

Viele Interessierte waren am Donnerstag der Einladung des Heimat- und Kulturvereins zur Verlegung gefolgt. Nicht nur Lorscher hörten der Ansprache von Bürgermeister Christian Schönung und den Ausführungen von Thilo Figaj zu. Unter anderem wurden auch die neue Erste Kreisbeigeordnete Angelika Beckenbach sowie Professor Joachim-Felix Leonhard begrüßt, der gemeinsam mit Thilo Figaj in Lorsch zum Beispiel die Dokumentationsstätte Jüdische Landjudenschaft aufgebaut hat.

Vor dem Haus Bahnhofstraße Nummer 10 wurde eine „Stolperschwelle“ verlegt, eine größere Variante der bekannten Stolpersteine. Sie erinnert an den Standort der Lorscher Synagoge, die 1938 von Nationalsozialisten zerstört wurde. © Zelinger

Schönung blickte zurück auf die ersten Stolperstein-Verlegungen und dankte allen Sponsoren, durch deren Unterstützung sie möglich gemacht wurden. Insbesondere würdigte er Thilo Figaj, dessen profunde Recherchen und die Verbindungen zu jüdischen Familien, die Figaj aufnahm und pflegt. Das Erinnerungsprojekt trage zu einer „positiven Bewältigung unserer traurigen Vergangenheit“ bei, so Schönung. Manche Angehörige von Familien, die vertrieben oder deportiert wurden, haben auf die auch mit den Stolpersteinen geäußerte „Bitte um Vergebung“ der Verbrechen reagiert, sind zu Besuchen nach Lorsch gekommen, halten seither Kontakt.

Modernes Gebäude für eine streng orthodoxe Gemeinde

Die jüdische Gemeinde Lorsch charakterisierte Figaj als „streng orthodox“. Es gab deshalb auch keine Orgel in ihrem Gotteshaus, anders als das etwa in der liberalen Synagoge in Darmstadt der Fall war. Bauherr war 1884 der Vorsitzende der Lorscher Gemeinde Simon Lorch, den Bauauftrag übernahm Franz Anton Klein, der mit einer Lorscherin verheiratet war. Die neue Synagoge entstand damals an der Stelle des früheren Gemeindehauses, das zu klein geworden war und abgebrochen wurde und einer Mikwe für die Ritualbäder.

„Klein schuf eine moderne kleine Synagoge im Stil der Zeit“, schilderte Figaj. Sie bot Platz für 84 Männer und 66 Frauen. Ihre Errichtung kostete 30 000 Goldmark. Die Kuppeln der Türme erinnerten an Byzanz, so Figaj, der von einem „Stilgemenge“ sprach: Rundbogenfriese waren der Romanik entlehnt, die Gliederungsform der Seitenfenster der Renaissance, sie ähnelten den Palazzi in Florenz. Die Giebelseite des Gebäudes in der Bahnhofstraße war leicht nach Süden gedreht, ihr Ostfenster nach Jerusalem ausgerichtet.

„Nazis setzen das Gotteshaus in Brand, die Feuerwehr sah zu“

„Am 10. November 1938, in der Frühe zwischen vier und fünf Uhr, brachen Lorscher Nationalsozialisten mit Äxten aus dem nahe gelegenen Spritzenhaus der Feuerwehr, zu dem sie den Schlüssel hatten, in die Synagoge ein und zertrümmerten die gesamte Einrichtung“, berichtete Figaj bei der Stolperschwellen-Verlegung. Die wertvollen Gegenstände aus Silber wurden gestohlen, Dokumente aus drei Jahrhunderten angezündet, der Dachstuhl brannte ab, das Zwischengeschoss stürzte ein: „Die Feuerwehr sah zu und schützte nur die beiden Nebenhäuser.“

Mehr zum Thema

Kaufhaus Ganz

Stolpersteine erinnern an Schicksal der Kaufhaus-Familie Schwabacher

Veröffentlicht
Von
Eva Bambach
Mehr erfahren
Bahnhofstraße

Stolperschwelle an der ehemaligen Synagoge in Lorsch

Veröffentlicht
Von
sch/red
Mehr erfahren
Gedenken

Stolpersteine für Familie Schwabacher in Bensheim

Veröffentlicht
Von
red
Mehr erfahren

Alle männlichen Lorscher Juden wurden in die Konzentrationslager nach Buchenwald und Dachau verschleppt. Der Gemeinderat ließ die Brandruine abtragen. „Einige Mitglieder dieses Gemeinderats waren die SA-Rädelsführer der Brandnacht“, erklärte Figaj. Wegen Brandstiftung sei nach dem Krieg nicht ermittelt, niemand verurteilt worden. Die Grundmauern der Synagoge bilden noch heute das Fundament des Hauses Bahnhofstraße 10.

Der Vorsitzende des Heimat- und Kulturvereins blickte auch zurück auf eine „heftige Debatte“ in den 1980er Jahren über die Aufstellung einer Gedenktafel für die Synagoge. In der Bahnhofstraße sei das nicht möglich gewesen.

Dem Magistrat unter dem früheren Bürgermeister Ludwig Brunnengräber sei es zu verdanken, dass ein „würdiger Ort“ in der Schulstraße eingerichtet wurde, hob Figaj hervor. Aus heutiger Sicht sei dort ein „mindestens ebenso passender Ort“ entstanden, befand er. Denn dieser befinde sich „im Zentrum der Wohnplätze unserer ehemaligen Mitbürger“.

Redaktion

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger

VG WORT Zählmarke