Lorsch. Die „Frankfurter Klasse“ ist derbste hessische Milieu-Comedy. Einer ihrer Eliteschüler hört auf den Namen Rainer Hackenbusch. In Lorsch hat der Mann mit Anorak, Plastikschuhen und Überbiss jetzt erzählt, was ihm in acht Wochen Lockdown mit seiner Mutter so widerfahren ist. Von der täglichen Erbsensuppe über den Jahresvorrat Windeln bis hin zu grottenschlechten Servicehotlines – dem Publikum wurde auch Unappetitliches nicht erspart.
Die Figur des nesthockenden Sozialphobikers, dem man eher ungern die Hände schütteln würde, hat der 46-jährige Frankfurter nahezu perfektioniert. Wer Hackenbusch nicht aus dem Programm mit Karaschs Bornheimer Comedy-Partner Jochen Döring kannte, der kollidierte im Theater Sapperlot mit einem präzise gezeichneten Charakter, der direkt aus „Hotel Mama“ ins Leben gespuckt wurde und dort eher mäßig zurechtkommt. Die pandemisch bedingte Isolation hat weder die physische noch die geistige Reichweite vergrößert, von der stagnierenden Körperhygiene einmal abgesehen. Umso besser, dass „Mama und ich“ windeltechnisch die gleiche Größe haben und einem familiären Austausch somit nichts im Wege steht.
Zwischen faszinierendem Ekel und pädagogischer Neugier sieht man als Zuschauer eine komplette Biografie an sich vorüberziehen – und erwischt sich bei Erinnerungen an ähnliche Exemplare, die einem, wenig daseinsbefruchtend, irgendwann im Leben mal in die Quere gekommen sind. Der Ex-Sozialarbeiter und Musiker Karasch brilliert als Gossen-Philosoph mit beschränkter Haftung, der sich auf der Bühne seine Gedanken macht über Kinder, Jesus und enddarmmotivierte Tauben, die er als „Arschlöcher mit Flügeln“ bezeichnet.
Was vordergründig als trashige Comedy bisweilen an in ihrer konsequenten Vulgarität und Grenzauslotung zu ersticken droht, kann aber durchaus auch als kabarettistische Gesellschaftskritik verstanden werden, wenn man Hackenbusch als Personifizierung des exklusiven Individuums in der glattgebügelten Masse versteht.
David Werker ist zehn Jahre jünger und befindet sich momentan in der Übergangsphase vom ewigen Studenten zum jungen Erwachsenen. In Daniel Helfrichs zweitem Kultursalon an altbewährter Wirkungsstätte führte der Duisburger Stand-up-Künstler existenzielle Monologe über die neu gewonnene Seriosität: habe er sich früher heimlich von Zuhause auf die Partys geschlichen, so verlaufe das heute tendenziell umgekehrt. „Damals hat Mama immer gesagt: das Bett ruft! Heute höre ich es tatsächlich rufen!“ Und zwar ziemlich früh am Abend. Und in der Nacht habe er plötzlich Angst davor, was passiert, wenn auf einmal alle Ecken des Spannbettlakens auf einmal losflutschen.
Die Berliner Klavierkabarettistin Vanessa Maurischat, die nach einer schweren Erkrankung seit gut einem Jahr wieder auf der Bühne steht, wurde in Lorsch vom Publikum regelrecht gefeiert. Die stillen und sehr emotionalen Momente am Piano wurden nicht minder beklatscht wie die herzhaften Studien über die Unterschiede im jeweils männlichen und weiblichen Liebeslied: während die Dame eher ein leichtes „Kribbeln im Bauch“ verspürt, wie es einst Pe Werner diagnostiziert hat, röhren bei Typen wie Grönemeyer gleich ganze Flugzeuge durch die Körpermitte. Und was ist, wenn man beim Sex mit einem anderen an seinen Partner denkt?
Von Amor und Amok
Vanessa Maurischats Auslassungen über Experimente mit tierischen Hermaphroditen zur Bestätigung der These, dass sich ein tendenzielles Wurmweibchen beim Abtrennen des Kopfes sofort in ein Männchen verwandelt, gerieten ebenso unterhaltsam wie die humanistischen Plädoyers mit Klavierbegleitung. „Ich glaube, es ist kein Zufall, dass sich Amor und Amok in nur einem Buchstaben unterscheiden.“
Den rein musikalischen Part des Abends übernahm der Weinheimer Akkordeonspieler Migel mit Werken von Astor Piazzolla („Libertango“) über Swing-Klassiker wie „In The Mood“ bis zu „Rock Around The Clock“. Und bei Daniel Helfrichs Ode an Männer im Baumarkt bestätigte sich, dass es wenige Entertainer gibt, die „Maria“ auf „Schraubenzieha“ reimen dürfen. Helfrich darf.
Mit über 90 Gästen war das Theater beim Kultursalon überaus gut besucht. Noch vor einer guten Woche hatten die Voranmeldezahlen ein eher geringes Interesse signalisiert. Das Sapperlot praktiziert momentan die 2G-Regelung, um eine höhere Auslastung zu ermöglichen.
Dennoch steckt das Kulturpublikum derzeit noch in einer Art Übergangsphase, in der noch eine gewisse Vorsicht zu herrschen scheint. Der große Ansturm auf Theater, Kabarettbühnen, Konzerthäuser und Kinos bleibt bislang aus. Die Rückkehr zur Normalität verläuft langsam, von Euphorie kann keine Rede sein. tr
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