Lorsch. Am Volkstrauertag legten Bürgermeister Christian Schönung und Stadtverordnetenvorsteherin Christiane Ludwig-Paul im Rahmen einer Gedenkfeier für die Opfer von Krieg und Gewalt in der Alten Friedhofskapelle einen Kranz nieder. Musikalisch umrahmt wurde die Feierstunde von Christian Knatz und Klaus Jehlicka. Diakon Andreas Debus sprach ein Gebet und erinnerte in seiner Rede auch an Gewalttaten wie die Morde der RAF und an Ereignisse zum Kriegsende 1945.
Was Augenzeugen berichten
Christiane Ludwig-Paul hatte das Buch „Das Echolot“, Teil eines Tagebuchs des Schriftstellers Walter Kempowski ausgewählt. Es enthält Aufzeichnungen von russischen und deutschen Tätern, Opfern und Augenzeugen des NS-Regimes zum Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion. Von Oberstabsarzt Dr. Willi Lindenbach heißt es: „Um 8 Uhr hörten wir im Radio, dass Deutschland Russland den Krieg erklärt hat und dass seit heute Morgen 5:03 Uhr die Kriegshandlungen begonnen haben. Wir sind alle ganz niedergeschlagen. Hitler ist ein Wahnsinniger! Was soll nur werden?“ Anna Awdejewa berichtet: „Einige Stunden später kamen die Deutschen mit einem großen Lkw. Sie gingen von Haus zu Haus und nahmen alles weg: Hühner, Eier, Schweine, Gänse und andere Vorräte aus den Kellern.“
In einer aufrüttelnden Rede erinnerte Bürgermeister Schönung, dass das Gedenken an die Weltkriege zu einer humanitären Verpflichtung geworden sei, der man sich nicht entziehen dürfe. Es handle sich nicht um leere Rituale. Das Bekenntnis zur Vergangenheit, „vor allem für die dunklen Seiten der Geschichte Deutschlands macht uns zu dem, was wir sind.“ Es gebe viele Stätten in Europa, die an Grausamkeiten der Krieg erinnerten. „Nicht gedacht werden sollte lange der Ermordeten, der Juden, Sinti und Roma, der Widerstandskämpfer und der zahlreichen anderen Opfer. Sie sollten anonym und gesichtslos aus der Erinnerung getilgt werden“.
Am Grab ist die Nationalität egal
Man müsse die Topografie des Terrors genauer in den Blick nehmen, „die zahllosen Konzentrations- und Vernichtungslager sowie das Gulag-System. Alles überzieht weite Teile Europas, von Sibirien bis in unsere Lande, wie ein dichtes Netzwerk des Schreckens“. Wenn man vor den Gräbern der Soldaten stehe, gebe es keinen Unterschied zwischen Nationalitäten, alle seien Opfer.
Das bedeute aber nicht, „dass wir die besondere Verantwortung und Schuld vergessen dürfen, die gerade Deutschland auf sich geladen hat“.
Krieg hätte nichts Heroisches an sich, wie Hurrapatrioten und Kriegstreiber behaupteten. Krieg dürfe nicht verherrlicht werden, auch nicht die bewaffneten Auseinandersetzungen, die Europa erschüttern. Er nannte die Verbrechen auf dem Balkan, die Annexion der Krim durch Russland. Verachtung, Hass und Abgrenzung gegenüber Anderen seien keineswegs für immer verstummt, vielmehr scheinen sie wieder aufzuleben, wie die politische Landkarte Europas zeige.
Man erlebe ein Erstarken verhängnisvoller Ideologien, die vor Jahren den Kontinent beinahe in den Abgrund gerissen hätten. Er sprach von Rückgriffen auf giftige Strömungen, auf faschistische und neonazistische Gruppierungen, die wütend alles bekämpfen, was nicht in ihr enges Weltbild passt. Zu erkennen sei dies unter anderem in Polen und Ungarn. Mancherorts gehörten nationalistische Töne zum gängigen politischen Diskurs.
Man müsse auf diese Tatsache hinweisen, weil sie heute nur zu oft kleingeredet oder sogar geleugnet werde. „Wir dürfen nicht verzagen, müssen alle unsere Kräfte aufbieten, um uns dem Vergessen und Verdrängen entgegenzustemmen und auf diese Weise die Demokratie vor Schaden zu bewahren“.
Demokratie sei der wichtigste Schutz gegen solche Entwicklungen und sie gehöre zu den ersten Opfern autoritärer Machtansprüche. „Unser Gedenken an den Krieg und seine Opfer ist stets verbunden mit dem Kampf um Demokratie“. Man dürfe nicht zulassen, Demokratie abzuschaffen, müsse sich mit allen Mitteln wehren, „wenn wir uns die Freiheit bewahren wollen“, bilanzierte Schönung.
Gedenken spiele eine wichtige Rolle, schärfe den Blick, sei ein immer neuer Anstoß, sich der Vergangenheit zu stellen. Auch den Nachkommen, die im Wissen um die Geschichte aufwachsen mögen, sei man das Gedenken schuldig. Schönung dankte den vielen Teilnehmern der Gedenkveranstaltung, vor allem dem VdK. ml
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