Bensheim. Etwa 40 Menschen gedachten am Mittwoch am Ort der ehemaligen Synagoge an die Pogrome von 1938. Vom 9. auf den 10. November wurden über 1400 Synagogen, Betstuben und andere Einrichtungen zerstört. Mindestens 30 000 Juden wurden in den folgenden Tagen verhaftet, verschleppt oder in den Tod getrieben.
Die gewaltsamen Ausschreitungen, die in einigen Städten bis zum 13. November andauerten, markieren den Übergang von der Diskriminierung der europäischen Juden ab 1933 hin zu ihrer systematischen Verfolgung.
Henrik Drechsler sprach am Bendheim-Platz von einer Zäsur für das jüdische Leben in Deutschland. Der Historiker und Ethnologe ist Mitarbeiter im „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz“ und unter anderem am Institut für Geschichtliche Landeskunde mit dem Forschungsschwerpunkt Jüdische Geschichte und Geschichte des Nationalsozialismus tätig. Er war zudem an der Wanderausstellung „1700 Jahre jüdisches Leben. Tradition und Identität der Juden in Rheinland-Pfalz“ beteiligt.
Wichtige Zentren des Judentums
In seiner Gedenkansprache, die aufgrund der Pandemie im Freien stattgefunden hat, lenkte er den Blick auf die kulturellen und gesellschaftlichen Aspekte der Pogrome: Die Juden wurden danach aus dem beruflichen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben verbannt. Sie durften keine offenen Veranstaltungen mehr besuchen, Handel, Handwerk und Gewerbe waren verboten. Jüdische Kinder durften nicht am Unterricht nichtjüdischer Schulen teilnehmen.
Während das jüdische Leben in Bensheim erstmals 1323 dokumentiert ist, waren Orte wie Speyer, Worms und Mainz bereits im 12. Jahrhundert als „SchUM“-Städte wichtige Zentren des Judentums im deutschsprachigen Mitteleuropa. Das Kürzel steht für die hebräischen Namen der drei Bischofsstädte Schpira, Urmaisia und Magenza. Von Beginn waren diese „heiligen Gemeinden“ Pogromen ausgesetzt, so Drechsler. Das nationalsozialistische Deutschland wandte sich gegen Juden und jüdische Kultur, gegen jüdische Bücher und Bauten. Die jüdischen Gemeinden der drei „SchUM“-Städte wurden in der Shoah ausgelöscht. Im Juli hat das Welterbe-Komitee die drei Stätten zum Unesco-Welterbe ernannt. Dazu gehören der Speyerer Judenhof, der Wormser Synagogenbezirk sowie die alten jüdischen Friedhöfe in Worms und in Mainz.
Antisemitismus, Verfolgung und Neuaufbau habe da jüdische Leben in Deutschland seit Jahrhunderten geprägt, so der Gastredner, der auf Einladung der Stadt Bensheim und der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger an der Veranstaltung teilgenommen hat. Unterstützt wird der Termin vom Auerbacher Synagogenverein.
„Zukunft braucht Erinnerung“, betonte Thomas G. Graubner in Vertretung von Peter E. Kalb von der Geschichtswerkstatt. Allein im Jahr 2020 seien in Deutschland über 2300 antisemitisch motivierte Straftaten registriert worden. Das Gedenken in Bensheim sei auch eine öffentliche Zurückweisung antisemitischer Tendenzen, so Graubner, und daher auch weiterhin dringend geboten.
Auch Bürgermeisterin Christine Klein ging auf die wieder zunehmende Judenfeindlichkeit ein. „Eigentlich wäre eine solche Veranstaltung jeden Tag nötig.“ Der Kampf gegen Fremdenhass und Antisemitismus dürfe nicht enden. Die Werte einer humanen Gesellschaft müssten als höchstes Gut verteidigt werden, so Klein weiter.
„Wir erinnern uns heute auch an die Vielfalt jüdischen Lebens in der deutschen Vergangenheit“, sagte Henrik Drechsler. Nicht nur die Gebäude seien zerstört worden, sondern auch die Fundamente des religiösen, sozialen und kulturellen Miteinanders. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) beispielsweise war eine Vereinigung von jüdischen deutschen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten und sich tief in der deutschen Gesellschaft verankert fühlte. Laut Drechsler habe es eine Ortsgruppe des RjF auch in Bensheim gegeben.
Seit über 1700 Jahren haben Menschen jüdischen Glaubens die Geschichte und Kultur des Landes entscheidend mit geprägt. Beim Gedenken an den Holocaust müsse man auch diese Tatsache wachhalten, so der Historiker. Es gehe darum, den Reichtum und die Vielfalt jüdischer Kultur in Deutschland ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Gleichzeitig soll dem erstarkenden Antisemitismus entgegengetreten werden. Der Vermittlung regionaler und lokaler Vergangenheit komme laut Drechsler eine besondere Bedeutung zu, da so insbesondere die junge Generation einen greifbaren Zugang zur Geschichte erhalten könne. „Die Zeitzeugen werden weniger, die direkten Kontakte in die Vergangenheit reißen ab.“ Und die Ereignisse vor 83 Jahren seien nicht so weit weg, wie das oftmals scheinen mag.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von Hannelore Schmanke und ihren Schülerinnen Marie Arnold und Lara Scholz von der Musikschule Bensheim. Im Anschluss präsentierte die Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger in der Liebfrauenschule den Film „Verfolgt und umworben“ über „2000 Jahre jüdisches Erbe am Rhein“.
Neben den großen „SchUM“-Städten Mainz, Worms und Speyer beleuchtet der Beitrag auch das lebendige Judentum in den kleineren Gemeinden der Region. Der Filmemacher und Kulturredakteur beim SWR war bei der Vorführung und dem anschließenden Meinungsaustausch anwesend.
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