Lorsch. In Zeiten wie diesen ist auch Fastnacht ein schwieriges Geschäft geworden. Worüber kann man sich noch unbeschwert lustig machen, wen oder was darf man noch durch den Kakao ziehen? Man braucht nur einmal der „Regiebesprechung“ der Bürger-Funken zuzuhören, um einen Eindruck zu bekommen, welche Gefahren selbst im Karneval inzwischen allerorts lauern. Brian Schilz, Dr. Andreas Adams und Tobias Graf führten ihrem Publikum zum Auftakt der Sitzung in der voll besetzten Nibelungenhalle in einer grandiosen Nummer vor Augen, was noch übrig bleibt, wenn sie bei Wortwahl, Kostümierung und Ausrüstung alles bis ins allerkleinste Detail nach Regulierungen politischer Korrektheit ausrichten: Ein „Helau“ – sonst nichts.
Glücklicherweise ordnen sich gerade Fastnachter natürlich nicht allen vermeintlich nötigen Vorgaben unter. Die Funken pfeifen auf absurde Gängelungen. Im Jubiläumsjahr – der Verein ist 55 – zeigen die Lorscher, dass sie im besten Alter sind: erfahren und zugleich jung geblieben. Das vierstündige Programm mit viel Lokalkolorit kommt hervorragend an. Noch während Auftritte laufen, werden jeweils Zugaben gefordert. Alle werden erfüllt.
„Buh“-Ruf Richtung Elferrat
„Tobi, ändere dein Skript“, heißt es in der „Regiebesprechung“ zwar immer wieder. Aber das junge Ballett tanzt dann doch nicht in bodenlangen Röcken, die Schützenabteilung ändert trotz Verschärfung des Waffenrechts nicht ihren Namen, die Bühne wird nach jeder Nummer in Windeseile umgebaut, obwohl die Helfer noch ohne Mindestlohn anpacken. Süßigkeiten werden verschenkt, auch wenn „Helikopter-Eltern“ protestieren sollten – und Luftschlangen recycelt kein Mensch.
Newsletter "Guten Morgen Bergstraße"
Nicht alles findet Zustimmung. „Buh“-Rufe schallen aus dem Publikum, als das Trio meint, im Komitee sei die Frauenquote mit zwei am Rande sitzenden Marketenderinnen erfüllt. Einen Fachkräftemangel konstatieren die Fastnachter daraufhin bei „Lachenden“. Im Publikum registrieren sie „Personen ohne humoristischen Hintergrund“. Humor ist, wenn man trotzdem lacht, erinnern sie an den Kern des Karnevals.
Giggel heißen jetzt Henninnen
Gottlob gibt es mit den Einhäusern robuste Nachbarn, die nicht dafür bekannt sind, dass sie bei jeder Spöttelei der Funken gleich empfindlich beleidigt auf die Barrikaden gehen. Man darf ohnehin erwarten: die „Giggel“ werden sich zu gegebener Zeit revanchieren mit Seitenhieben auf die „Sandhasen“, spätestens zur Kerb. „Giggel“ nennen darf man sie übrigens nicht mehr. „Benachbarte Henninnen und Hähne“ lautet die neue empfohlene Bezeichnung.
Der ganze Saal singt stehend mit, wenn Angie Helm mit ihren Stimmungshits über die Bühne fegt, von „Himmelblauen Augen“ schwärmt und fragt „Kann den Liebe Sünde sein?“. „Nein“, schmettern hunderte Fastnachtsfans mit ihr aus voller Kehle. Die Arme gehen hoch.
Auf eine klassische Bütt verzichten die Lorscher Fastnachter längst. Redner nutzen lieber die gesamte Bühne. Einen Höhepunkt im Programm präsentierten die Funken diesmal, als sie eine Nachbildung des Lorscher Tabakbrunnens ins Rampenlicht schieben. Darauf thront Marion Walter – und der erste Auftritt der „Tabaknäherin“ schlägt ein. Die Fastnachterin hat von ihrem exponierten Aussichtspunkt am Alten Rathaus das Stadtleben bestens im Blick. Was sie sieht, erzählt sie brühwarm weiter.
Nirgendwo wird lieber gefeiert als in Lorsch. Die Klosterwiese wird für Konzerte genutzt, weil es da „viel schöner als in Bensheim ist“. Auch die Kleinhäuser kommen gern, denn die „Giggel“ haben ja selbst nichts außer ihrer Kerb – und sogar die musste zuletzt verschoben werden.
Wahlplakate mit Hotzenplotz?
Den Bürgermeister-Wahlkampf hat die „Tabaknäherin“ zwischen Wahlplakaten verbracht, von denen das eine als Werbung für „Räuber Hotzenplotz“ missinterpretiert wurde, das andere als Brillen-PR für Fielmann. „Nicht besonders kreativ“, sagt sie über den Wahlkampf des wiedergewählten Amtsinhabers. Aber „ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss“.
Die anstehende Kirchen-Fusion zwischen Lorsch und Einhausen lasse manche Nachbarn um St. Michael sowie den Chef im Einhäuser Rathaus nicht mehr ruhig schlafen. Dem „Helle“ werde es „bang, denn mit den Kirchen fängt es an“, reimt Walter und irgendwann „holen wir uns flott den ganzen Ort“, prophezeit sie. Kräftiger Applaus der Zuhörer für die „Tabaknäherin“, die mit ihren Beobachtungen das Zeug dazu hat, eine neue Symbolfigur der Funken-Fastnacht zu werden, nachdem „Mephisto“ vor einigen Jahren seinen Abschied gegeben hat.
„Lorsch ist wirklich eine Fastnachtshochburg“, stellt ein Besucher aus Bensheim in der Pause beeindruckt fest. Schon die Zahl der Garden und Ballettgruppen ist schließlich enorm. Sechs Formationen bieten allein die Bürger-Funken auf, alle gut besetzt und mit Begeisterung auf der Bühne. Noch dazu drei Tanzmariechen, die als Solistinnen anmutig und in atemberaubendem Tempo ihr Können zeigen: Radschlag, Spagat, die Fußspitzen in die Hand nehmen – alles dabei.
Das Gardeballett heizt zu „I’m still standing“ von Elton John ein in selbst geschneiderten glitzernden Kostümen, die viel Beinfreiheit lassen. „Immer knackig und adrett – das Bürger-Funken-Showballett“, so der Sitzungspräsident über die Formation, die mit Hüten auf den Köpfen, zu Michael Jacksons „Thriller“ tanzt. Es folgt donnernder Applaus und dreifaches „Laurissa helau“.
Als schlagfertige Bedienungen berichten Ute Späth und Madeleine Kath von ihrem Stress im Service und daheim, wenn der Ehemann fragt, wo sein Essen steht? „Im Kochbuch“, antwortet das Duo.
„Müsst ich nackt sehen“
Marco Graf hält im „Homeoffice-Dress“, also Trainingshose, einen unterhaltsamen Rückblick auf die Coronazeit. „Was werden bloß die Leute sagen?“, sorgen sich Melanie Maurer und Silke Helwig singend, die ihre rosafarbenen Jogginganzüge gegen zauberhaft kurze Goldkleider tauschen.
„Kann ich so nicht sagen, müsst ich nackt sehen“, trällern sie nach Mickie Krause – die Schützen der Bürger-Funken bilden eine passende Kulisse dazu, marschieren oberkörperfrei mit Sporthosen auf dem Kopf vorüber. Zuvor haben sie die Zuhörer mitreißend und hüftschwingend mit ihrem Showtanz zu „If you wanna be my lover“ in die 90er Jahre versetzt.
Das Gardelied „Mer sin all die Bürger-Funke“ wird schon zu Beginn gemeinsam angestimmt. Für alle Ordensträger und ausdrücklich auch für Hans-Jürgen Brunnengräber, den viel zu früh verstorbenen einstigen Vereinsvorsitzenden. Sein Regie-Stuhl bleibt den gesamten Abend gut sichtbar auf der Bühne platziert.
Falls es jemand vergessen haben sollte: „Lorsch ist doch einfach wunderbar“, singen die „Laureshämmer“. Um Mitternacht ist noch lange nicht Schluss. „Bei den Funken tanzt der Bär, wir lieben Fastnacht sehr“. Nach dem offiziellen Programm geht’s bei Tanz- und Partymusik weiter.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/lorsch_artikel,-lorsch-funken-pfeifen-auf-neue-regie-vorgaben-_arid,2050244.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/lorsch.html
[2] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim.html