Lautertal. Der Felsberg ist massiv in Bewegung. Zum Glück nicht geologisch, wohl aber baulich und gedanklich. Seit Investor Holger Zinke das Ensemble aus dem ehemaligen Hotel, dem einstigen Forsthaus und dem Ohlyturm im Sommer 2013 erworben hat, entwickelt sich auf exakt 500 Metern über Null ein Refugium für kreative Köpfe aus unterschiedlichen Disziplinen. 2015 begannen die Umbauarbeiten. In zwei Jahren könnten die ersten Stipendiaten einziehen. Zeitlich befristet, intellektuell aber vogelfrei.
Der Eigentümer und Ideengeber denkt nicht in symbolischen Spatenstichen und offiziellen Eröffnungsterminen. Das hat die Lautertaler CDU bei seinem Baustellenbesuch gleich als erstes erfahren. Zwei Stunden später wurde das Großprojekt von den Kommunalpolitikern durch die Bank positiv kommentiert. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Erich Sauer sprach von einem „tollen und bis ins Detail durchdachten Konzept“. Der Vorsitzende der Gemeindevertretung, Helmut Adam, erkannte ebenso wie Gemeindevorstand Karl-Josef Kuhn eine Initiative, die künftig überaus positiv auf die Kommune ausstrahlen könnte. Heidi Adam, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Geschichts- und Heimatvereine, betonte vor Ort auch den historischen Bezug und die sensible Revitalisierung des ehemaligen Hotels Felsberg, das ab 1882 als prominenter Platz in exponierter Lage zahlreiche Gäste angezogen hatte.
Über zehn Jahre Leerstand
Das Anwesen auf dem Felsberg
Ab 1882 wurde das zuvor landwirtschaftlich genutzte Anwesen von Jacob Haberkorn auf Hotelbetrieb umgestellt. 1886 wurde der Komplex um einen Küchenbau erweitert.
Nach dem Ersten Weltkrieg nutzte die Mannheimer Firma Lanz das Gebäude als Erholungsheim für ihre Mitarbeiter. Später übernahm das Deutsche Rote Kreuz die Liegenschaft, um dort fast 50 Jahre lang ein Schullandheim zu betreiben.
1990 zog dort das Felsenmeer Institut der Reuters GmbH ein. Danach stand das Anwesen über zehn Jahre leer. tr
Über zehn Jahre stand das Anwesen leer. Im Juni 2013 wurde die „Hof- und Gebäudefläche in Beedenkirchen“ am Bensheimer Amtsgericht zwangsversteigert. Holger Zinke erhielt den Zuschlag. Der Gründer und langjährige Vorstandsvorsitzende der Brain AG mit Sitz in Zwingenberg hatte sich kaum zwei Jahre später aus der Spitze des börsennotierten Biotechnologie-Unternehmens zurückgezogen und noch im Juli gleichen Jahre auf dem Felsberg angepackt.
Als Idee war die Akademie damals schon längst geboren: Zinke wollte einen Ort schaffen, der Menschen Freiräume ermöglicht und einen interdisziplinären Diskurs ermöglicht. Die Klientel: Geistes- und Naturwissenschaftler, Künstler aus allen Sparten, aber auch Handwerker, Techniker und Ingenieure sollen auf dem Felsberg jeweils dreimonatige Stipendien genießen. Die Akademie will Talente aus allen Nischen das Privileg anbieten, drei Monate lang unabhängig und in jeder Hinsicht barrierefrei leben und arbeiten zu können. Und zwar nicht in einer thematischen Monokultur, sondern auf einem Campus der Artenvielfalt in befruchtend ländlicher Szenerie.
Ein Kuratorium gibt es ebenso wenig wie Aufnahmeregeln. Eingeladen werden je zwei Stipendiaten pro Fachbereich, die eine gewisse fachliche wie persönliche Originalität mitbringen. Menschen, die in ihrem Genre Großes leisten oder Großes denken, aber nicht im etablierten wissenschaftlichen System oder anderen klassischen Organisationsformen verortet sind.
Auch Amateure sind willkommen
Zur Zielgruppe gehören auch Amateure und Dilettanten, also im ursprünglichen Wortsinn Menschen, die eine Tätigkeit aus Leidenschaft und Liebhaberei ausüben, ohne einen Beruf daraus zu machen. Der Spiritus Rector der Akademie ist überzeugt, dass auf dieser Ebene viel Talent übersehen wird oder gar verloren geht. „Ich erkenne ein erhebliches Potenzial an solchen Leuten“, so Holger Zinke, der als promovierter Biologe und Unternehmensgründer selbst zu dieser Kaste zähle, wie er betont.
Von April bis Juni und von August bis Oktober sollen die Stipendiaten in ruhiger Umgebung Inspiration und künstlerische Orientierung finden. Frei von finanziellen Engpässen, in anregender Sphäre und ohne straffe Hierarchien, wie Zinke betont. Vorbild ist das Modell des „Institute for Advanced Study“ (IAS): ein akademischer Exzellenzbetrieb nach US-amerikanischem Vorbild, der sich abseits etablierter – bisweilen starrer – universitärer Strukturen bewegt und einen regen Austausch zwischen den „Fellows“ beabsichtigt, wie die Stipendiaten auch genannt werden. Die autarke Existenz außerhalb des Universitätsbetriebs soll freiheitlich und aus sich selbst heraus kreativ sein, um frische Ideen und Netzwerke auszubrüten und Grenzüberschreitungen der Disziplinen zu ermöglichen. Eine Art „WG auf Zeit“, so Zinke.
Auch im deutschen Raum gewinnen die IAS genau aus diesen Gründen zunehmend an Bedeutung. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin wurde bereits im Jahre 1981 als erstes deutsches Institut dieser Art gegründet. „Es geht um eine komplementäre Ergänzung zum akademischen Betrieb an den Hochschulen“, erläutert Holger Zinke, der bereits mit einigen Universitäten vernetzt ist. Darunter die TU Darmstadt, die TU Wien und der Werkbundakademie Darmstadt. Aber auch der Unesco-Geopark Bergstraße-Odenwald, das Museum Bensheim und die Stiftung Heiligenberg in Jugenheim gehören zu den Partnern in einem dynamischen Netzwerk, das weiter ausgebaut werden soll.
Auch die Baustelle, die Zinke gern als „Hardware“ bezeichnet, ist Teil eines ganzheitlich gedachten Konzepts, das von einem rund 25-köpfigen Netzwerk aus ideell verbundenen Kollaborateuren geschultert wird. Ein Initiativteam, das weder Verein noch Stiftung ist, sondern als loser Verbund ohne starre Verfassung als „Betriebssystem“ der Akademie funktioniert und alle baulichen wie inhaltlichen Themen bespricht. Auf öffentliche Subventionen und politisch-institutionelle Abhängigkeiten wird zugunsten einer kompromisslosen Unabhängigkeit verzichtet. Alles ist unternehmerisch strukturiert. Der Aufwand für die Stipendien und den laufenden Betrieb wird von der Betreibergesellschaft erwirtschaftet, die ihren Sitz dereinst im ehemaligen Forsthaus haben soll.
Betriebe aus der Region am Werk
Die CDU-Mitglieder zeigten sich auch vom Innenausbau des Komplexes beeindruckt. Spiegelgleich zum restaurierten Bestand wurde der frühere Küchenflachbau auf der anderen Seite des Ensembles durch eine Aufstockung so erweitert, dass man die zeitliche Distanz kaum erkennen kann. Im großen Saal werden die historischen Pilaster rekonstruiert und beschädigte Stuckelemente aufgearbeitet. Auf der Baustelle sind nur wenige Personen tätig, jeder aber ein Meister seines Fachs. Sämtliche Maschinen und Fahrzeuge sind Eigentum der Akademie.
Das Interieur der Räume für die Stipendiaten kann individuell gestaltet werden, in einer Lagerhalle in Bensheim-Auerbach befindet sich eine Art Möbel-Archiv mit einem großen Fundus an historischen Wohnobjekten. Die meisten mit einer besonderen Geschichte, darunter ein Tisch aus der Werkstatt der Odenwaldschule oder ein Sekretär aus Schloss Reinhartshausen im Rheingau, das einst im Besitz der Prinzessin von Preußen war. Die Zimmer unterscheiden sich weniger in der Größe als optisch, die Wände sind mit unterschiedlichen Mineralfarben angelegt. Die behutsame Restauration reicht von den alten Lautertaler Holzdielen bis zu den historisierenden Lichtschaltern.
Die Veranda am Haupteingang ist gerade im Entstehen. Auf dem rund 25 000 Quadratmeter großen Grundstück sind unter anderen ein Bassin, ein Pumpenhaus, ein Natureiskeller und ein Gewächshaus angelegt worden.
Ein Wasserwerk, ein Spritzenhaus sowie weitere Funktionsgebäude erstrecken sich rund um ein zentrales Forum. Im Gewölbekeller unter dem früheren Hotel wurde Felsberg-Granit aus der Umgebung verbaut. Der Garten wird sukzessive nach historischem Vorbild neu angelegt.
Ausdrücklich begrüßte Erich Sauer die Vergabe der Handwerksarbeiten an lokale und regionale Betriebe. Auf diese Weise bleibe ein Stück Wertschöpfung in der Heimat. Auch der Reichenbacher Klavierbauer Jendrik Rothe und andere Spezialisten ihres Fachs sind im Entstehungsprozess der Akademie eingebunden. Die neue Akademie auf dem Felsberg will also nicht nur eine internationale Klientel nach Lautertal bringen, sondern auch die historisch gewachsenen Wurzeln am Standort pflegen.
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