Heppenheim. Da waren drei Kerle auf dem Marktplatz, die haben dauernd einen Typen herumgetragen und abgeknutscht, sich einen großen Blumenkasten vom Balkon geschnappt und einer Frau das Handy, einer anderen das Eis abgenommen. So beschrieben, wäre es ein Fall für die Polizei, wenn nicht alles wieder an seinen Platz gekommen wäre und alle herzlich gelacht hätten. Die drei Kerle waren auf Stelzen unterwegs und auch ohne ein Wort ein Brüller der Heppenheimer Gassensensationen, die seit Mittwoch und noch den ganzen Samstag über die Altstadt beleben und verzaubern.
„Wenn Sie wirklich wissen wollen, was die Gassensensationen ausmacht, schauen Sie nicht auf die Bühne, sondern ins Publikum“, riet der künstlerische Leiter des Straßentheater-Spektakels, Stephan Behr, im Rahmen der offiziellen Eröffnung im Rathaus. Dort begann er vor 30 Jahren, dann ging es schon raus auf den Marktplatz vor 150 Zuschauern – und inzwischen kommen Zigtausende. Damit es noch lange so weitergehen kann, muss die Finanzierung stabilisiert werden.
„Wir sind jedes Jahr dabei“
Den Parkplatz am Amtshof, wo kurz zuvor noch das Festzelt des Weinmarkts stand, zog der spanische Künstler Txema Munoz als witziger Postbote in seinen Bann, der so ganz nebenbei zaubert in all dem, was ein wenig an den ebenfalls stummen Tollpatsch „Mr. Bean“ erinnert. Das alte Spiel, die eine Hälfte des Publikums gegen die andere wetteifernd mitwirken zu lassen, ging wunderbar und mit viel Gelächter auf.
„Wir sind jedes Jahr dabei“, versicherte Zuschauerin Gertraud Rittersberger aus der Weststadt im Gespräch mit dieser Zeitung. Sie und ihr Mann sicherten sich rechtzeitig eine vordere Bank auf dem Kirchplatz, um das Unerwartete mit dem Programm von „Strange Comedy“ zu erwarten. „Die ganze Atmosphäre“ fasziniert Rittersberger, nie sei die Altstadt so belebt wie in diesen für sie gesetzten besonderen Tagen Anfang Juli. Als Urlaub daheim preisen die Verantwortlichen die Gassensensationen an, und so nehmen es auch Rittersbergers an. Wie die eigens aus dem nordrhein-westfälischen Warendorf anreisende Verwandtschaft.
Wie eine große Familie kümmert sich der Verein Freunde und Förderer der Gassensensationen um ebendiese. Seines Erachtens mit mehr als 1400 Mitgliedern der größte Verein in Heppenheim, hob Vorsitzender Martin Fraune einleitend gern hervor. Auch wenn allein am Vorabend rund 30 Neue dazukamen, sei perspektivisch klar: „Wir können das in dieser Form einfach nicht mehr halten.“
„Keimzelle des Miteinanders“
Das weiß auch Bürgermeister Rainer Burelbach (CDU), der zur Eröffnung schon mal den Blick voraus in die herbstlichen Haushaltsberatungen warf. Trotz des Fördervereins, aller Sponsoren und Eigenarbeit werde die Stadt das Spektakel großzügiger unterstützen müssen. Ein etwaiger Entscheid dazu bleibt freilich der Politik überlassen.
Als Behr die Bedeutung der Stadt „als größte Einheit, die noch Identität schafft“, betonte, sprang Burelbach sofort dazwischen, um das zu unterstreichen: Nicht auf Wiesbaden und Berlin komme es dabei an, sondern „hier ist die Keimzelle des Miteinanders“. Behr erinnerte an die Schutzfunktion der Stadt im Mittelalter. Heute müssen die Menschen dort nicht mehr Zuflucht finden, sie können ihr Leben für sich im Grünen gestalten, aber eben nur für die modernen Gaukler vorbeischauen zum Beispiel. Zum Theater für alle, das noch immer keinen Eintritt nimmt, was auch so bleiben soll. Telefonzellen und Videotheken gibt es nicht mehr, „wir haben sogar ,Wetten dass’ überlebt“.
Umfrage soll helfen
Ein fester Bestandteil wie die Laternenführungen entlang der hessische und lokale Sagen aufgreifenden Scherenschnitte Albert Völkls ist der Künstler selbst als Theatermacher. „Der kleine Prinz und das rote Ross“ führte er vor allem für die Kinder auf, „Wie der Dr. Faust ins Puppentheater kam“ als erwachseneres und doch vor allem auch heiteres Stück. Vom Teufel zum Leben erweckt, bangten Groß und Klein mit, als das vom Hanswurst geschnitzte Krokodil durch Heppenheims Gassen schlich, um den Faust tatsächlich zu erwischen. Und wieder auszuspucken. Zum Fazit der Puppe des wackeligen Helden über Völkls markante Stimme: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so blöd als wie zuvor. Ende.“ Applaus, und sogleich bat einer im Gehen: „Weitermachen, nicht in Rente gehen.“ Völkl schüttelte konsterniert den Kopf, das kommt wohl zur allgemeinen Erleichterung eh nicht in Frage.
Auch die Heppenheimer Familie Pfeifer ist Jahr für Jahr begeistert dabei, der Sohn findet das Ganze einfach „cool“ und schön laut wie sein Schlagzeug. Auf das Kinderfest samt Bambus-Baustelle zum Mitmachen freute er sich ebenfalls. Das freut wiederum die Macher, denn nicht nur Fraune stellte fest, dass das Publikum altert. Eine Umfrage, auf Zuruf und über einen QR-Code auf Plakaten, soll aufzeigen, wer von wo und wie lange schon herkommt. mbl/ü
Das steht heute im Programm
14 Uhr: Mitmachfest für Kinder im Kastanienhof Kino Saalbau
15.30 Uhr: Die große Tierschaumit Günter Fortmeier im Saalbau-Kino
17 Uhr: Peter Trabner mit „Das Leben des Diogenes“ im Hof der Alten Sparkasse
18.30 Uhr: Kinderlaternenführung „Ratz Pfeifers geheimnisvolle Sagenwelt“ mit Ratz Pfeifer auf dem Kurfürstenplatz
19 Uhr: Cie L’Abre à Vache mit Goodbye Persil auf dem Parkplatz am Amtshof
19.30 Uhr: Peter Trabner mit „Das Leben des Diogenes“ im Hof der Alten Sparkasse
20 Uhr: Die Barbaren Barbies mit „A Wild Women Circus“ auf dem Kirchplatz
22 Uhr: Cie L’Abre à Vache mit Goodbye Persil auf dem Parkplatz am Amtshof
22 Uhr: Die Barbaren Barbies mit „A Wild Women Circus“ auf dem Kirchplatz
22.15 Uhr: Laternenführung „Jenseits von Gut und Böse“ im Marianne-Cope-Garten
22.30 Uhr: Borja Cia. Ytuquepintas mit „JOJO“ auf der Freilichtbühne red
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