Bensheim. „Eine Kinderangst kann uns nur durch eine andere Kinderangst besiegen“ – und es sind wirklich zwei gewaltige Ängste, mit denen der 19-jährige Protagonist Wahab in dem Stück „Im Herzen tickt eine Bombe“ von Wajdi Mouawad zu kämpfen hat, das in der Inszenierung von Martha Kottwitz im Rahmen der Woche junger Schauspieler in Bensheim aufgeführt wurde.
Es reicht nicht, dass Wahab in einer stürmischen Winternacht den Bus zum Krankenhaus nehmen muss, in dem seine krebskranke Mutter im Sterben liegt, sondern immer wieder holen ihn Erinnerungen an den Bürgerkrieg in seinem Heimatland ein, den er als Kind miterleben musste und weshalb er und seine Familie überhaupt nach Deutschland geflohen sind. Unschlüssig darüber, wo seine eigene Geschichte eigentlich beginnt, wechselt er zwischen Kindheitserinnerung und der Gegenwart im Schnee.
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Dies wird durch Comic-Projektionen auf einer riesigen weißen Leinwand verdeutlicht, die das Bühnenbild bildet, und auf die Wahab im Laufe des Stückes mithilfe von Farbe seine Emotionen zum Ausdruck bringt.
Das gefühlvolle Spiel von Abdul Aziz Al Khayat, in der Rolle von Wahab, macht es dem Publikum unmöglich von dem Stück unberührt zu bleiben, und baut eine Nähe zwischen dem Schauspieler und den Zuschauern auf. Immer wieder wird Wahab in die Vergangenheit zurückgeworfen, so beispielsweise in den Bürgerkrieg, in dem er mit ansehen musste, wie ein Bus voller Menschen angezündet wurde und seinen Freund mit in den Tod riss.
Während dieses grauenhaften Ereignisses erscheint ihm außerdem zum ersten Mal eine Frau mit hölzernen Gliedern, die für ihn Angst und Tod symbolisiert. Diese emotionale Last mit sich herumtragend, muss er sich in Deutschland sowohl mit einem empathielosen und fremdenfeindlichen Busfahrer als auch einem rücksichtslosen und egoistischen Weihnachtsmann herumschlagen, die ihm mit ihren kleingeistigen Forderungen nach dem exakten Fahrpreis und Anschiebehilfe bei einem festgefahrenen Auto den Weg zum Krankenhaus weiter erschweren.
Den ergreifende Höhepunkt des Stücks und gleichzeitig den größten inneren Konflikt Wahabs bildet das Sterben der Mutter im Beisein von ihm und seiner ganzen Familie. Unter Druck gesetzt von der gesellschaftlichen Norm fühlt er sich verpflichtet, bei dem Tod seiner Mutter emotional berührt zu sein, was er zunächst jedoch nicht kann, so dass er ins Wartezimmer flieht.
Während für den Rest der Familie der schlimmste Moment der letzte Atemzug der Mutter ist, steht Wahab das Hochgehen der Bombe in seinem Herzen noch bevor und zwar als er in das Zimmer seiner toten Mutter zurückkehren muss, um seine vergessene Jacke zu holen. Dort wartet auf ihn die bereits im Hintergrund seiner Erinnerungen lauernde Frau mit den hölzernen Gliedern, die im Begriff ist ihn anzugreifen und von Wölfen, die Wahabs Angst vor dem Tod symbolisieren, aufgehalten wird. So wird seine Angst vor dem Bürgerkrieg von seiner noch größeren Angst vor dem Tod besiegt. Er erkennt, was seine Mutter alles für ihn geopfert hat, und kann zum ersten Mal Emotionen zulassen. Letztendlich löst sich mit dem Tod der Mutter sein innerer Konflikt.
Das Stück handelt nicht nur von Migration, Krieg, Traumata und Fremdenhass, sondern auch von den Schwierigkeiten, Emotionen zuzulassen und von dem langen Weg des Erwachsenwerdens. „Im Herzen tickt eine Bombe“ ist geprägt von tiefen menschlichen Gefühlen, die jeden berühren, wodurch jeder Zuschauer das Stück im Herzen mit nach Hause trägt.
Die Autorinnen dieses Textes Amelie Divivier, Mia Wahlig, Leonie Wahlig sind Schülerinnen des AKG Bensheim und nahmen am Schulprojekt „Theaterkritik“ teil.
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