Bensheim. Eine weiße Leinwand, unbemalt und leer, darauf wartend, dass jemand – wir – sie selbst gestalten. Wenn diese Leinwand dein Leben, dein Innerstes darstellen würde, wie sähe sie aus? Wie eine Explosion aus Farben oder doch eher geordnet, die verschiedenen Farben streng voneinander getrennt? Auf das Leben des 19-Jährigen Wahab trifft erstere Beschreibung zu. Rot und Blau und Gelb und Grau – ein wirres Durcheinander auf der Leinwand seines Seins.
„Im Herzen tickt eine Bombe“, inszeniert von Martha Kottwitz (Schauspiel Frankfurt), im Rahmen der Woche junger Schauspieler in Bensheim aufgeführt, erzählt die Geschichte des 19-jährigen Wahab (Abdul Aziz Al Khayat), der auf dem Weg ins Krankenhaus, wo seine Mutter im Sterben liegt, anfängt, sein Leben zu überdenken. Es ist ein Stück über Erwachsenwerden, Traumabewältigung und Selbstfindung.
„Wir wissen nie, wie eine Geschichte beginnt.“ Wahabs Geschichte beginnt mit dem Einsteigen in einen Bus. Oder doch schon früher? Mit seinem 14. Geburtstag, an dem er bemerkt, dass seine Mutter ein anderes Gesicht besitzt? Oder sogar noch früher? Als er Zeuge eines Anschlags auf einen Bus wird? Das weiß er selbst nicht so genau. Was war, ist Vergangenheit, was kommt, ist Zukunft. Doch die Zukunft wird kaum thematisiert. Was zählt, ist die Vergangenheit. Sie bildet die zweite Ebene des Theaterstücks, die grafische Darstellung dieser Vergangenheit eine dritte. Im Graphic Novel Stil werden in einzelnen Szenen Bilder an die, am Anfang noch weiße, Leinwand projiziert.
Sie erscheinen wie Ausmalbilder, die vom Protagonisten koloriert werden. Doch ohne diese Projektionen ergeben die Farben scheinbar keinen Sinn. Auf der Leinwand ein völliges Durcheinander, im Herzen auch. Fast könnte man meinen, dort wäre wortwörtlich eine Bombe eingeschlagen und hätte nur ein Chaos aus Gefühlen zurückgelassen. Eigentlich möchte er weinen, schreien und lachen zugleich, so wirkt es zumindest.
Abdul Aziz Al Khayat schafft es, Wahabs Gefühlschaos für die Zuschauer greifbar zu machen. Sein Schauspiel berührt, zeugt von Leidenschaft und Liebe für die Kunst. Er zeigt eine Facette von verschiedenen Emotionen, schafft es allerdings im nächsten Moment, fast schon ernst seine Geschichte weiterzuerzählen, wären da nicht die Beleidigungen, die er in einzelnen Szenen den Zuschauern an den Kopf wirft.
Aber der wirkliche Gefühlsausbruch bleibt aus. Zwar wird die Farbe im Verlaufe des Stücks immer energischer gegen die Leinwand geklatscht und sogar einer der weißen Sitzwürfel, die vor der Leinwand gestapelt waren, über die Bühne getreten, doch wird keiner der Farbeimer gegen die Leinwand geschmettert. Somit ist das Stück an sich eine tickende Bombe, die jedoch nicht hochgeht. Die Katharsis bleibt aus. Der Protagonist ist gefangen in seinen eigenen Gedanken und Gefühlen. Freiheit findet er erst, als er am Totenbett seiner Mutter steht und endlich mit seiner Vergangenheit abschließen kann.
Während seine Mutter aufgehört hat zu atmen, tut er seinen ersten Atemzug.
Die Autorin dieses Textes Louisa Rusch ist Schülerin am AKG Bensheim und nahm am Schulprojekt „Theaterkritik“ teil.
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