Bensheim. Die 27. Woche junger Schauspieler (WJS) läuft. Am Freitagabend fand im Foyer des Parktheaters die Auftaktveranstaltung statt, bei dem die Jury im Gespräch mit Regisseuren und Schauspielerin das Programm vorgestellt hat. Im Anschluss präsentierte das Schauspiel Leipzig das szenische Solo-Projekt „Die Leiden des jungen Azzlack“ vor einem für Corona-Zeiten gut gefüllten Theatersaal.
Es ist eine Premiere: Erstmals in der Geschichte der Reihe sind zeitgleich zu den Gastspielen Aufzeichnungen der Stücke online zu sehen. Damit haben die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste und die Stadt Bensheim auf die aktuelle Corona-Situation reagiert und dem Publikum eine Option an die Hand gegeben, die Inszenierungen auch von zu Hause aus zu genießen.
Nach der rein digitalen Variante vom letzten Jahr - und der Absage in 2020 - ein Format, mit dem das Festival nicht nur das Theater in die Stadtmitte zurückbringt, sondern zudem neuen Zuschauern Gelegenheit gibt, aktuelle Produktionen der jungen Szene zu verfolgen.
Wahrnehmungsraum erweitert
Damit habe sich der Wahrnehmungsraum des Theaters enorm erweitert, sagte die Juryvorsitzende Dagmar Borrmann am Abend im Gertrud-Eysoldt-Foyer. Eine lebendige Interaktion gehöre zum Wesen des Genres, das sich momentan in einer besonderen Phase befindet.
Borrmann sprach von sehr dichten und substanziellen Arbeiten, die auf die Krise mit eigenen Ideen und Konzepten reagieren und in ihrer künstlerischen Ausrichtung eine große Ernsthaftigkeit und Verantwortung an den Tag legten. „Die Theater bringen sich selbst in den gesellschaftlichen Diskurs ein“, so die Dramaturgin und Hochschullehrerin, die auf der Bühne mehr darstellerische Varianzen und performative Spielformen erkennt, während gleichermaßen zunehmend digitale Ausdrucksmittel genutzt werden. Die Entwicklung habe dem Theater neue Qualität gegeben, die auch das Berufsbild des Schauspielers zum Positiven verändert habe.
Newsletter "Guten Morgen Bergstraße"
Aus über 40 Produktionen hat die Jury fünf Gastspiele für Bensheim ausgewählt. Gesichtet wurden Einreichungen von Stadt- und Staatstheatern sowie aus der freien Szene und aus Schauspielschulen. Man merke den Arbeiten die eingeschränkten Produktionsbedingungen durch die Pandemie nicht an, so Borrmann in Bensheim.
Zum Team der Kuratoren gehören außerdem der Schauspieler Nicolas Matthews, die Regisseurin und Dramaturgin Antonia Leitgeb sowie der Regisseur und Autor Florian Fischer, der am Freitag nachträglich mit dem Kurt-Hübner-Regiepreis 2019 ausgezeichnet wurde. 2020 musste die Preisverleihung aufgrund der Pandemie abgesagt werden, ein Ersatztermin kam seither nicht zustande.
Fischer erhält den mit 5000 Euro dotierten Preis für seine Inszenierung „Operation Kamen“ am Staatsschauspiel Dresden. In der Begründung der Jurorin Rita Thiele (ehemals Chefdramaturgin am Hamburger Schauspielhaus) heißt es unter anderem, Fischers multidisziplinäre Arbeit zeige eine eindrückliche und raffinierte Erzählform und schlage einen Bogen zwischen historischer Vergangenheit und Gegenwart.
Überreicht wurde die Auszeichnung von Bürgermeisterin Christine Klein und Dagmar Borrmann in Vertretung von Akademiepräsident Hans-Jürgen Drescher, der wegen einer Erkrankung nicht in Bensheim dabei sein konnte.
Nach der Auftaktproduktion aus Leipzig und der akademischen Abschlussarbeit von Regisseurin Camilla Gerstner (Folkwang Universität der Künste Nordrhein-Westfalen), die am Samstag gezeigt wurde, geht das Theaterfestival am 22. März mit der theatralen Videoinstallation „FaustGretchen“ weiter.
Regisseur Bert Zander hat mit der Schauspielerin Emilia Reichenbach und 50 Bürgern aus Kassel ein Solodrama gebaut, das Goethes Tragödie umkrempelt und Gretchen aus der klischeehaften Rolle des Opfers herausholt und ihr eine weibliche Autonomie schenkt. Die Arbeit sei davon motiviert, Margarete ihre Würde zurückzugeben, so Zander, der vor allem als Videokünstler tätig ist.
Die Inszenierung an der Schnittstelle zwischen Videokunst und Theaterbühne soll den großen deutschen Bildungskanon auf einer anderen, bürgerschaftlichen Ebene nacherzählen und eine der am stärksten an den Rand gedrängten Figuren der deutschen Literatur eine neue Stimme geben. Dass er den Faust aus dem „Faust“ schmeißt, macht neugierig auf dieses Gastspiel vom Kasseler Staatstheater, in dem der Held nur in den für Gretchen relevanten Dialogen vorkommt.
Auch in „Liebe/Eine argumentative Übung“ (24.) wird eine marginale Frauenfigur ins Zentrum bugsiert. In der Inszenierung von Anna Marboe für das Kosmos Theater Wien wird Olivia Öl - die chronisch gereizte Freundin des starken Matrosen Popeye - aus der Nebenrolle befreit und zum analytischen Sprachrohr ihrer Schwesternschaft. Sie kritisiert Patriarchat und Diskriminierung und wirft eine kritische Perspektive auf die klassische Paarbeziehung, ohne dabei das feministische Weltbild zu überhöhen.
„Diese Autorin musste einfach nach Wien“, so die künstlerische Leiterin des Kosmos-Theaters, Veronika Steinböck, die via Zoom im Parktheater von einem starken Stück der Autorin Sivan Ben Yishai sprach.
Den Abschluss der 27. Woche junger Schauspieler macht das digitale Theaterstück „Möwe-live“, das am 25. März auch als Public Viewing im Parktheater zu sehen ist - wichtig für alle Zuschauer, die im Anschluss daran die Bekanntgabe der Theaterpreise vor Ort verfolgen möchten.
Mit dem Online-Gastspiel von Cosmea Spelleken nimmt sich das Theaterkollektiv punktlive Anton Tschechows Klassiker „Die Möwe“ vor. Das 1895 geschriebene Drama dient als Arbeitsgrundlage und thematischer Leitfaden für die Figuren. Die Kernthemen sind Einsamkeit, Sehnsucht und das Scheitern an einer ehrlichen Kommunikation.
„Die Figuren kreisen um sich selbst“, so Spelleken, die explizit für den digitalen Raum inszeniert hat und damit die Trennlinien zwischen verschiedenen Kunstformen überwindet. Das Stück verwischt die Grenzen zwischen Film und Theater, zwischen öffentlich und privat. Die Vorstellung wird live gespielt und kann von überall aus gesehen werden. Mit den in Social Media zum Leben erweckten Charakteren des Stückes kann das Publikum vor, während und nach den Vorstellungen über Facebook, Instagram und Co. in Interaktion treten.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim_artikel,-bensheim-woche-junger-schauspieler-in-bensheim-gestartet-_arid,1924656.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim.html