Bensheim. Ohne den Ausbau der Windkraft kann Deutschland seine Klimaziele unmöglich erreichen. Ein massiver Ausbau der Erneuerbaren Energien, um den notwendigen Strombedarf für Verkehr, Wärme und Industrie aus sauberen und regenerativen Quellen zu decken, müsse auch der Windenergie den gebotenen Raum im Energie-Mix einräumen.
Darüber waren sich die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion der SPD Bensheim einig. „Der Beitrag der Windkraft zur Energiewende wird unterschätzt, während jener der Photovoltaik derzeit überschätzt wird“, so Micha Jost aus dem Vorstand der Energiegenossenschaft Starkenburg vor knapp 50 Teilnehmern im Hotel Felix.
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Der Ortsverein hatte Fachleute eingeladen, um interessierten Bürgern Gelegenheit zu geben, ihre Fragen zur Energiewende und speziell zu Photovoltaik (PV) zu stellen und kompetent beantworten zu lassen.
Auf dem Podium diskutieren neben Jost die zuständige Fachdezernentin der Stadt Bensheim, Erste Stadträtin Nicole Rauber-Jung (CDU), sowie Martin Zencke als Sprecher des Arbeitskreises Klimapolitik in der SPD Bensheim. Moderiert wurde die Veranstaltung von der SPD-Landtagskandidatin und stellvertretenden Ortsvereinsvorsitzenden Josefine Koebe. Der erwartete Vertreter der GGEW AG hatte krankheitsbedingt seine Teilnahme abgesagt, wie die Gastgeber mitteilten.
Nutzung der Windkraft an sinnvollen Standorten
Trotz der Fokussierung auf die Photovoltaik, der beim Ausbau eines CO2-freien Energiesystems eine zentrale Rolle zukommt, sei eine Vernachlässigung der Windkraft auf dem Weg zu einem klimaneutralen Hessen bis zum Jahr 2045 nicht machbar, so der Konsens des Abends.
Nicole Rauber-Jung plädierte an Gesetzgeber und übergeordnete Behörden, die Energiewende ganzheitlich zu denken und für die nötigen Rahmenbedingungen zur Nutzung der Windkraft an sinnvollen Standorten zu sorgen. Auch in Bensheim und an der Bergstraße dürften Windräder kein grundsätzliches Tabu sein. Die Klimaveränderung sei ernst und spürbar, es sei daher an der Zeit zu handeln.
„Noch mehr anstrengen“
Selbst wenn in Bensheim jedes einzelne Dach mit einer Photovoltaikanlage ausgestattet würde, wäre eine Klimaneutralität in den kommenden 22 Jahren nicht erreichbar. Bei Rauber-Jung laufen im Kontext der Energiewende auf kommunaler Ebene thematisch alle Fäden zusammen: Ihr Fachbereich umfasst neben Bauen und Straßenverkehr auch Umwelt- und Klimaschutz sowie Gebäudemanagement.
Im Jahr 2014 – vor Beginn ihrer Amtszeit – hatte die Stadt mit dem „Masterplan 100% Klimaschutz“ Ziele definiert, die den Klimawandel begrenzen und ihm entgegenwirken sollten. Doch die Umsetzung der Maßnahmen sei zu langsam verlaufen, so die Erste Stadträtin. Daher werde der Masterplan derzeit überarbeitet und durch neue, effiziente Projekte erweitert. „Wir müssen uns noch mehr anstrengen“, so Rauber-Jung, die ebenso wie alle Experten von einem künftig deutlich höheren Stromverbrauch ausgeht.
Denn Strom spielt eine zentrale Rolle in einer dekarbonisierten Energieversorgung der Zukunft. Gründe dafür sind unter anderem der steigende Anteil von Elektrofahrzeugen, die Elektrifizierung der Wärmeversorgung und – in derzeit noch kleineren Dimensionen – die Wasserstofferzeugung durch Elektrolyse, um aus erneuerbarem Strom grünen Wasserstoff für den Einsatz im Verkehr und in der Industrie zu erzeugen. Dieser Mehrbedarf relativiert ein Stück weit die positiven Effekte von energieeffizienten Anwendungen zur Verringerung des Stromverbrauchs.
Gemeinsam mit der GGEW plant die Stadt aktuell einen Solarpark an der Autobahn. 200 Meter dürfen solche Freiflächenanlagen derzeit in die Landschaft hineinragen. Von der derzeit viel diskutierten Agri-Photovoltaik (Agri-PV) sei sie aber kein Freund, so Rauber-Jung. Damit bezeichnet man ein Verfahren zur gleichzeitigen Nutzung von offenen Landschaftsflächen sowohl für die landwirtschaftliche Produktion wie für die Stromerzeugung.
Im eigenen Gebäudebestand werde sich die Stadt weiterhin darum bemühen, Energie effizient einzusetzen und regenerative Energiequellen zu nutzen. Damit sei man bereits auf einem guten Weg, sagte die hauptamtliche Stadträtin. Auf allen städtischen Gebäuden, die in den vergangenen Jahren errichtet wurden, seien neben einer Dachbegrünung auch PV-Anlagen installiert worden.
Weitere PV-Anlagen geplant
In diesem Jahr kommen weitere hinzu, unter anderem auf dem Dach der Kita Lerchengrund, auf dem Parktheater sowie eventuell auch auf dem Gerätehaus der Feuerwehr Fehlheim. Wo die bauliche Situation schwieriger ist, dauere es länger, so Nicole Rauber-Jung. Beispielhaft nannte sie das Bürgerhaus Kronepark in Auerbach. „Wir arbeiten die Projekte ab, so schnell es die Kapazitäten zulassen.“ Es sei zudem schwieriger geworden, zeitnah eine Fachfirma für den Einbau zu finden.
Ein spezielles Thema ist Photovoltaik auf Gebäuden mit Denkmalschutz: Das soll laut einer neuen Richtlinie für Denkmalbehörden in Hessen künftig möglich sein.
Schleppender Netzausbau als großes Problem
Um Projekte im ganz großen Maßstab kümmert sich die Energiegenossenschaft Starkenburg, die 2010 in Heppenheim gegründet wurde und aktuell 1140 Mitglieder umfasst. Die unabhängige Genossenschaft realisiert Vorhaben mit Photovoltaik, Windenergie und Biomasse, bislang wurden über 20 Millionen Euro für eine saubere Strom- und Wärmeerzeugung investiert. Es gehe um eine Energiewende im regionalen Maßstab mit einem attraktiven finanziellen Nutzen durch eine möglichst breite Bürgerbeteiligung vor Ort, so Micha Jost vom Vorstand der Genossenschaft in Bensheim.
Beispielhaft nannte er ein gemeinsames PV-Projekt mit der Geschwister-Scholl-Schule, das ausschließlich mit Bürgergeld finanziert wurde und im Sommer 2020 an den Start gegangen war. Der Jahresertrag der Anlage beträgt gut 100 000 Kilowattstunden. Eine Erweiterung der Anlage sei in der Folge am Veto des Eigenbetriebs Gebäudewirtschaft im Kreis Bergstraße gescheitert, so Jost, der überzeugt ist: „Am Geld wird die Energiewende nicht scheitern!“
Die Menschen seien hoch motiviert, sich an dem Prozess zu beteiligen und dafür auch tiefer in die Tasche zu greifen. Die Warteliste der Genossenschaft sei entsprechend lang. Doch auf der höheren Ebene würden viele Maßnahmen ausgebremst, vor allem durch bürokratische Hürden und viel zu lange Genehmigungsprozesse. Das Land Hessen sei diesbezüglich ein trauriges Schlusslicht im bundesweiten Vergleich, merkte Josefine Koebe an.
Als weiteres Hemmnis erweist sich laut Micha Jost der schleichende Trassenausbau. Denn das Netz gilt als Rückgrat der Energiewende. Doch der Strom muss teilweise über weite Strecken von den Erzeugern zu den Verbrauchern transportiert werden. Dafür ist der Aus- und Umbau von tausenden Kilometern Leitung von Norden nach Süden nötig.
Doch die zentrale Infrastruktur der Energiewende komme nur schleppend voran, so Jost, der sich mehr Tempo und Planungssicherheit wünscht. Auch Nicole Rauber-Jung kennt das Problem: sie habe derzeit drei Planfeststellungsverfahren auf dem Tisch, bei denen es um den Verlauf von Verteilernetzen geht. Denn klassische überirdische Trassen mit hohen Masten sind vielen Bürgern ein Dorn im Auge – ähnlich wie bei Windrädern. Als Alternative gelten unterirdische Stromautobahnen. Doch der Einbau von Erdkabeln ist bislang sehr aufwändig und teuer. In jedem Fall dauere es noch Jahre, bis diese Infrastruktur fertiggestellt sei, so die Podiumsteilnehmer. Deutschland habe den Netzausbau ganz offensichtlich verschlafen, kritisierte ein Gast der Veranstaltung.
Von den Windkraft-Plänen bei Ober-Hambach war seit einigen Jahren kaum noch etwas zu hören. Das Areal an Kesselberg und dem benachbarten Heiligenberg („HeiKe“) war noch 2012 als potenzielles Gebiet für Windkraftanlagen vorgesehen. Die Energiegenossenschaft Starkenburg wollte dort fünf Windräder errichten. Doch beide Bereiche wurden später im Teilplan erneuerbarer Energien (TPEE) des Regionalplans Südhessen als Vorrangflächen für Windkraft abgelehnt.
Für Genossenschaftsvorstand Micha Jost wären dies aber nach wie vor Flächen, die Heppenheim eventuell gemeinsam mit Bensheim und Lautertal nutzen könnte. „Vielleicht sollte man die Ablehnung eines solchen Projekts noch einmal überdenken“, sagte Jost in Bensheim. Die Zeit dafür sei reif. tr
Bisher war es vom Antrag bis zur Genehmigung ein langwieriger und komplizierter Prozess, der viele Hausbesitzer abgeschreckt hat. Neu dabei ist, dass Behörden die Installation einer Solaranlage lediglich bei einer „erheblichen Beeinträchtigung eines Kulturdenkmals“ ablehnen können.
Dazu gehören beispielsweise Eingriffe in die Dachkonstruktion oder die Fassade. Auch in mehreren Bergsträßer Kommunen wird die Harmonie von Solarzellen und Altbauten teilweise intensiv diskutiert. „PV-Anlagen in der Altstadt sollten nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden“, so Rauber-Jung.
Einig war sich das kleine Podium auch darin, dass eine Energiewende ohne den Bürger nicht erfolgreich sein wird – egal, welche Maßnahmen und Strategien die große Politik in den kommenden Jahren realisieren oder initiieren wird. Auch in Bensheim sei die Bereitschaft hoch, selbst einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, insbesondere durch die Installation von Photovoltaik-Anlagen, so Martin Zencke für den Arbeitskreis Klimapolitik.
Durch den jüngsten Anstieg der Gas- und Strompreise habe sich diese Entwicklung noch verstärkt. Sehr gut nachgefragt sind derzeit sogenannte Balkonkraftwerke: Mini-PV-Anlagen mit üblicherweise 300 bis 600 Watt Leistung, mit denen sich die Grundlast zu Hause abdecken und Strom sparen lässt. Die im Mai 2022 bei der Stadt gestartete Bürgersolarberatung unterstützt potenzielle Nutzer bei derartigen Vorhaben.
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