Bensheim. Spielzeug in jedem Winkel, ein Laufstall und angefangene Bastelarbeiten – ein großes Zimmer mit Büro-Ecke, Küchenzeile und Spieltisch dient im Frauenhaus als Bereich für die Kinder. Ein dunkelhaariges Mädchen beschäftigt sich versunken mit einem Legespiel.
Eine Treppe führt hoch zur zweiten Ebene und ermöglicht zwei Jungen ungestörtes Spielen auf dem Bauteppich. Man hört sie kaum, vertieft in Spiel und leise Unterhaltung. Eigentlich ist der Kinder-Bereich heute noch nicht offen, aber die Sozialpädagogin hat den Kindern erlaubt, eine Zeit lang dort zu sein. Es regnet, und das neue Mädchen versucht sich gerade einzuleben. Die Pädagogin spricht sie in einer fremden Sprache an. Neun Jahre ist sie für den Kinder-Bereich schon zuständig. Man spürt, dass diese Arbeit ihre Herzensangelegenheit ist. Stundenweise wird sie von einer weiteren Person unterstützt.
Sie schützen ihr System Familie
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Unausgesprochenes tragen die Kinder mit sich. Was zu Hause passierte, halten sie geheim. Die Kinder schützen ihr System Familie, so gewaltvoll und ängstigend es auch für sie sein mag. Im entspannten Tun kommt spielerisch zutage, was ihren Alltag ausgemacht hat. Dann agieren sie in der oberen Ebene wie „Mama und Jugendamt“: „Hallo, können Sie sofort zu Hilfe kommen? Mit wie viel Mann kommen Sie?“
Jedes Kind, jede Familiensituation braucht eine eigene Herangehensweise. Mädchen ziehen sich oft zurück, sind still, um möglichst nicht aufzufallen. Jungen, gerade aus männlich dominierten Familien, reagieren mit Aggressivität und werten andere ab. Doch die Regeln im Kinderhaus werden sehr schnell klar, nicht nur, weil sie an der Wand hängen.
Die Jungen und Mädchen werden nah begleitet, nicht mit Sanktionen, sondern positiv. „Hurra, das war ein guter Fehler“, sagt die Sozialpädagogin zu einem der Buben. „Du kannst nicht alles an einem Tag lernen.“ So werden die Kinder herangeführt, bei Konflikten nicht zu weinen, sondern sprechen zu lernen – und sie erfahren auch: Man darf niemandem mit Worten weh tun und auch nicht mit der eigenen Hand. Sie werden ermuntert, zu sagen, was sie brauchen und was ihnen nicht gefällt. Viele Kinder sind verstummt, weil sie in dem übermächtigen Familienkonflikt nicht mehr gesehen und gehört wurden.
Im Kinderhaus aber hört man ihr Leid: ein vermisstes Spielzeug, die fehlenden großen Geschwister, die Angst, nicht mehr heim zu können. Unmerklich hat sich die Betreuerin während ihrer Arbeitserfahrung allerlei Sprachkompetenz angeeignet, Türkisch, Polnisch, Dialekt. Die Kinder fühlen sich persönlich angesprochen. Es gibt keinen Gruppenzwang, wer Prinzessinnen malen will, ist genauso geschätzt wie der Ballspieler im Sportraum.
In der Sicherheit der altersgemischten Kinder-Gruppe erleben sie, dass sich nun andere um die Probleme der Eltern kümmern. Sie können Kind sein, mit klaren Regeln und verlässlichem Rhythmus, können Lernausflüge machen, Blumen pflanzen und Pfannkuchen backen. Angeleitet formulieren sie Wünsche an ihre Eltern: Papa soll Mama nicht an den Haaren ziehen, Iwan soll Mama in der Küche kein Bein stellen, Mama soll nicht so viel rauchen, Papa soll streiten lernen, nicht hauen.
Neue Rollen lernen
Die Familiensituation hat die Kinder in Rollen gepresst, die ihnen nicht zustehen: maßloser Macho als Papas Stellvertreter, verwöhnte Prinzessin als Mutters Konkurrenz, Beschützer, der auf Mama aufpasst. Im Kinderhaus lernen sie neue Rollen: Beschützerin für ein kleines Kind, Helfer bei täglichen Pflichten, Bewerber um einen Ausbildungsplatz, guter Muslim, der die Mutter achtet und höflicher Nachbar für die Frau im Nebenzimmer. Diese eingeübten Rollen können sie mitnehmen in ihr späteres Leben, wenn die Familiensituation geklärt ist und die Eltern-Kind-Beziehung neu entwickelt wird.
Eine Mutter steckt vorsichtig den Kopf durch die Tür: „Ich bin nur kurz zum Lidl!“ erklärt sie, wohl wissend, dass die Kinder normalerweise erst am Nachmittag betreut werden. Das Kinderhaus ist keine Ikea-Kinderaufbewahrung, aber sie soll die Mütter wenn nötig entlasten. Damit die Lernerfolge der Kinder nachhaltig sind, gibt es jede Woche eine Mütterbesprechung. Auch die Frauen müssen ihre Rolle und ihr Erziehungsverhalten überdenken. Kinder sind kein Partnerersatz, sie brauchen Führung und Forderung und vor allem Qualitätszeit, in der elterliche Fürsorge spürbar wird.
So kann die Arbeit im Kinderhaus eine Weichenstellung anstoßen, raus aus der ständigen Unsicherheit in der Herkunftsfamilie hin zu einem Stück Normalität mit kindlichen sozialen Beziehungen. Im Kinder-Bereich des Frauenhauses erhalten sie die Chance, in ihrem Erwachsenenleben später nicht die Geschichte der Eltern zu wiederholen.
In der kommenden Woche wird es für die Kinder spannend. Dann wird alles Spielzeug in Kisten gepackt. Sie ziehen als Zwischenstation in das alte Büro. Das Frauenhaus steckt in der dringend nötigen Sanierung und demnächst ist der Kinderbereich an der Reihe. Aus diesem Anlass kann auch Altes aussortiert werden.
Schon wieder ein Wechsel – aber die Sozialpädagogin wird die Kinder als Packer und Gestalter zu fleißigen Akteuren machen. red
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