Bensheim. Es gibt Konzerte, bei denen man nach zwei Minuten weiß, dass man sich Jahre daran erinnern wird. Am Donnerstag passierte das im Musiktheater Rex. Mit einem sehr persönlichen und intensiven Solo hat Justin Sullivan gezeigt, dass er auch nach über 40 Jahren als Vordenker der englischen Band New Model Army ein kantiger Solitär der Szene ist.
Mit intelligent-kritischen Texten, energiegeladenem Gitarrenspiel und einer alterslosen Stimme, die wie früher faszinierend zwischen rotzigem Punk und weiser Melancholie segelt und die alte Güterhalle bis in den letzten Winkel austapeziert hat.
Die Atmosphäre im bestuhlten Saal war von Anfang an konzentriert, leise und persönlich. Der 66-Jährige verzichtet nach wie vor auf genretypische Publikumsanbiederung und Mitklatsch-Animationen. „Das haben wir nie getan“, sagt er mit nordenglischem Zungenschlag auf der leeren Bühne, die nur mit einem Stuhl und zwei akustischen Gitarren möbliert ist. Die Corona-Zwangspause war für Sullivan die Gelegenheit, ein weiteres Solo-Album namens „Surrounded“ aufzunehmen. Mehr wollte er über die Pandemie in Bensheim nicht sagen. Wozu auch? Es wäre ohnehin nichts Neues.
New Model Army ist weiterhin aktiv. In diesem Jahr tourt die Band mit einem 40-köpfigen Sinfonieorchester auch durch Deutschland. Richtig angesagt war die Gruppe aber nie. Doch die Fangemeinde ist treu. Auch im Rex kommen die Anhänger teils von weit her an die Bergstraße, um den charismatischen Songwriter aus der Nähe zu erleben, der die neuen Songs mit viel innere Ruhe und Kontemplation – und minimalistischer Instrumentierung – auf die Bühne bringt.
„Musik ist Eskapismus“
Themen wie Brexit und der Krieg in der Ukraine kommen lediglich am Rande vor. „Musik ist Eskapismus“, so Sullivan, der lieber über frühere Reisen, Begegnungen und Kindheitserlebnisse singt. Er hat ein Stück über den Wettlauf zum Südpol im Jahr 1911 geschrieben. Als Engländer wachse man mit der Vorstellung auf, Robert Scott wäre ein Nationalheld – und Amundsen ein Betrüger, der Scott um den Sieg gebracht habe. „Obwohl mir das als Kind eingetrichtert wurde, habe ich immer gedacht: Amundsen war doch derjenige, der alles richtig gemacht hat. Er wusste, wie man die Hunde einsetzt und konnte Ski fahren.“
Die monumentale und gleichzeitig fokussierte Perspektive verleiht dem Song eine cineastische Qualität, die epische Bilder mit narrativem Schliff vereint. Justin Sullivan versteht es wie wenige andere, komplexe Geschichten in simple Klangbilder zu gießen, die auf „Surrounded“ immer wieder auftauchen. Der Blick geht dabei zumeist nach innen.
Die wütende Kritik des zornigen intellektuellen Straßenkämpfers an gesamtgesellschaftlichen Dimensionen ist anders als bei New Model Army nur ganz subtil spürbar. Der Sänger überzieht die Miniaturen mit viel emotionalem Gewicht, ohne in seifiges Pathos abzugleiten. Aber auch ältere Stücke wie „The Changing Of The Light“ vom 2003er Soloalbum „Navigating by the Stars” tragen diese Energie in sich.
Ein Herz für Benachteiligte
In Bensheim erweist sich der Brite als Mittsechziger mit Biss und Herz für die Benachteiligten, die politisch Angehängten und gesellschaftlichen Outlaws. Er erzählt von einem Hobo im kanadischen Winter, den er bei minus 40 Grad im Auto mitgenommen hatte. Der Wanderarbeiter sagte ihm, dass er wohl bald sesshaft werden müsse. Auf die Frage, wie alt er denn sei, antwortete er: 74. Dann habe er ja noch Zeit, habe Sullivan – damals Mitte 50 – daraufhin für sich gedacht.
Einer der düsteren Höhepunkte im Rex ist der Song „Coming With Me“, der vom geplanten Absturz einer Germanwings-Maschine in den französischen Alpen aus dem Jahr 2015 inspiriert ist, bei dem 150 Menschen gestorben sind. Der österreichische Kopilot, der den Sinkflug eingeleitete hatte, soll depressiv gewesen sein.
„We’re going on a journey, and they’re coming with me, all of them”, heißt es darin in gespenstischer Klarheit in einer romantisierten Todessehnsucht. Ein beklemmendes Stück, dass Sullivans Gespür für lyrische Dramatik spiegelt.
Mit Titeln wie „28th May“ und „No Greater Love” aus dem NMA-Army-Album „No Rest For The Wicked” (1984) und „Headlights” aus „Strange Brotherhood” (1998) ging es im Rex langsam Richtung Finale. In „Passing Through“ aus dem Jahr 2019 singt Justin Sullivan über die Flüchtigkeit des Seins und die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen.
Eine gewisse Demut und Achtung vor den Gesetzen der Natur ist in vielen Songs erkennbar. Niemand dürfe sich allzu wichtig nehmen, so der Brite, der diesen Anspruch auf das eigene Oevre bezieht. Hits wie „51st State“ werden im Rex gar nicht erst gespielt. Auch nicht als Zugabe. Songs, die größer als die Band zu werden drohen, hatten es bei New Model Army niemals leicht.
Am 18. November gastiert die Band in der Centralstation in Darmstadt.
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