Persönlich

Eine Familie aus Fehlheim geht auf Weltreise

Der Familienrat hat entschieden. Tim (elf Jahre), Ronja (17), ihre Eltern Claudia (45) und Eric (48) sowie Freundin Christa Jöckel (37) wollen sich ihren Traum erfüllen und raus aus dem Hamsterrad von Arbeit, Schule und Haushalt.

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© Batzel

Fehlheim. Ostern 2022, im Bensheimer Stadtteil Fehlheim tagt der Familienrat mit Tim (elf Jahre) und Ronja Schambach (17), ihren Eltern Claudia (45) und Eric (48) sowie Freundin Christa Jöckel (37). Sie beschreiben sich als „eher ungewöhnliche Familie“. Sie entscheiden demokratisch; jeder wird gehört zu der Frage, die sie sich - bei ehrlicher Reflexion - schon vor Jahren beantworten: Sie wollen auf Weltreise, ihren Traum erfüllen, raus aus dem Hamsterrad von Arbeit, Schule, Haushalt und locker eingestreuten Abenteuerurlauben. Ronja, bald volljährig, dürfte daheimbleiben. Sie will aber mit. Tim, Ronja, Eric, Claudia und Christa stimmen Mitte April zu, seitdem tickt die Uhr. Am morgigen Donnerstag, am frühen Abend, fährt die „ungewöhnliche Familie“ los.

Die beiden Etagen im Haus in Fehlheim? Erst seit dieser Woche vermietet. Wird am Ende dann doch knapp, weil ein Interessent kurzfristig kneift. Bei den Gartenmöbeln geht’s schneller, der Käufer will sie gleich mitnehmen, ist anders abgesprochen. Er kommt noch mal. Das Sofa bringt weniger ein als erhofft, muss aber weg, der Preis bei ebay also runter.

Jobs sind gekündigt

Die beiden Wohnungen sind nun leer, die Jobs gekündigt. Nur Eric wird während der Tour einen Tag in der Woche arbeiten, sein Arbeitgeber bittet ihn darum. Abschied von Freunden? Erledigt mit einer zünftigen Fete. Krankenversicherung? Läuft für fünf Jahre. Alle anderen Versicherungen? Gute Lösungen gefunden nach vielen Gesprächen. Die Tour? Grob geplant, weil sie aus vergangenen Reisen wissen: Wer zu viel plant, den trifft der Zufall.

Mit einem Beispiel versuchen Claudia und Eric Skeptiker zu überzeugen. Ihr Tripp durch Indien vor einigen Jahren ist bis ins Detail durchgeplant. Regenfeste Outdoor-Kleidung mit ordentlicher Wassersäule soll sie und ihre Fahrräder schützen, doch was gegen den gewöhnlichen mitteleuropäischen Landregen hilft, schützt nicht gegen den indischen Monsun. So wird der Plan nach nicht einmal einem halben Tag zum Teil ihrer Geschichte, der mehrwöchige Tripp dennoch ein Erlebnis.

„Big Ben“ rollt Richtung Südosten

Mehr als 50 Kilometer soll „Big Ben“, so heißt ihr umgebauter Wohn-Lkw, nicht rollen: im Schnitt und pro Tag. Deswegen verzichten sie auf eine Klimaanlage, ein Ventilator hängt zwischen Küche und Kojen. Eric erklärt: „Big Ben wird mehr stehen als fahren, ohne Klimaanlage wird die Umstellung von Innen- auf Außentemperatur nicht so groß und wir passen uns schneller an.“

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Die Tour führt durch Europa Richtung Südosten, Weihnachten wollen sie in der Türkei sein. Im Lkw gibt es keinen Baum, „den hatten wir in Fehlheim auch nicht. Man kann auch so das Fest feiern“, sagt Claudia. Reisen in dem umgebauten Steyr bedeutet Verzicht, da bleibt vielleicht Platz für einen Föhn, aber nicht für Lametta. Und mehr als ein Wäschekorb voll mit Kleidung für Jeden ist nicht drin. Muss reichen für alle Jahreszeiten und Gelegenheiten. Fünf Paar Schuhe für Alltag, Sandalen, Joggen, Wandern und Klettern. Klettern ist wichtig, das Hobby vereint die Reisegruppe.

Winter in der Türkei, Februar im Iran. Über die Pässe dort fährt keiner ohne Schneeketten. Sie sind verstaut im großen Fach am Heck von „Big Ben“, einem Allradfahrzeug aus Österreich, für Expeditionen ausgelegt und keine „Weißware“. So nennen Weltreisende in umgebauten Lastkraftwagen gewöhnliche, dünnwandige Wohnmobile.

Der Freiheit ein Stück näher

Hatten Eric, Claudia und Christa auch mal. Seit 2018 und dem Kauf von „Big Ben“ sind sie der Freiheit ein Stück näher, aber nicht schneller. „Big Ben“ kommt auf die Maximalgeschwindigkeit von 110 km/h, einig sind sie sich über Tempo 80 als Reisegeschwindigkeit.

Ostern 2023 wollen sie in Saudi-Arabien sein. Dann geht es weiter nach Äthiopien, durch Kenia oder vielleicht auch daran vorbei - je nach aktueller politischer Lage, jetzt gerade ist’s unruhig dort - Richtung Süden; Tansania, Botswana, Schleife durch Südafrika, hoch nach Namibia, zurück nach Südafrika. In Port Elisabeth, einem internationalen Frachthafen, wollen sie entscheiden: links nach Südamerika oder rechts herum nach Australien. „Big Ben“ fährt mit.

7,49 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht und 210 PS genügen auch in einem Steyr nicht, wenn 400 Liter Diesel und 300 Liter Wasser in den Tanks schwimmen, im Aufbau das „gesamte Hab und Gut“ (Christa) der Familie steckt. Bei moderater Fahrweise und entsprechender Streckenbeschaffung säuft „Big Ben“ 17 Liter auf 100 Kilometern. Da müssen Tankstopps gut geplant sein. Auch weil in manchen Ländern wie dem Iran kein Geldabheben möglich ist und Kreditkarten nicht funktionieren. Tims Drohne bleibt deswegen daheim, gäbe im Iran nur viel Ärger. Trotzdem freuen sie sich auf die legendäre Gastfreundschaft dort.

300 Liter Wasser genügen für die Versorgung für vier Tage, inklusive Kochen, Trinken und einer Dusche pro Tag für Jeden. Nutzen sie Waschlappen, reicht der Vorrat auch länger. Ihr Wasser können sie aus jeder Süßwasserquelle selbst aufbereiten. Sie suchen die Unabhängigkeit. Claudia schneidet seit Jahren der Familie die Haare - allen.

Kurz vor der Abreise: Eine Fehlheimer Familie geht am Donnerstag auf Weltreise, die sie über die Türkei nach Iran und Saudi-Arabien und weiter nach Afrika führen wird. Im umgebauten Steyr Wohn-Lkw testen (Bild unten links, v.li.) Christa Jöckel sowie Claudia, Ronja, Tim und Eric Schambach schon einmal das Leben auf rund 20 Quadratmetern Innenfläche. Geschlafen wird in zwei Kojen im Heck und einem Dachzelt über der Fahrerkabine. © Martin Batzel

Um für das Wiegen an Ländergrenzen „ein wenig Luft zu haben“, wird „Big Ben“ auf 9,5 Tonnen aufgelastet. Die Bestätigung der Zulassungsbehörde kommt erst in dieser Woche. Wer auf eine so große Tour geht, braucht schon vor der Abfahrt Geduld. Behörden und Weltreisende - wiederholt prallen da Welten aufeinander. Doch in Deutschland muss alles geregelt sein. Die nötige Fahrerlaubnis für den Lkw besitzt Eric, aber nur er. Innerhalb Europas steuert er den Truck. Christa sitzt als Beifahrer daneben, hinten links Tim, hinten rechts Ronja, Claudia in der Mitte, dazwischen passt noch eine große Kühlbox.

Außerhalb Europas, vielleicht in der Wüste, fährt ein anderer; fällt dort auch nicht so auf. Die drei Erwachsenen haben Fahrkurse besucht, wissen wie es geht, wie die Technik des Fahrzeugs funktioniert. 17 Liter auf 100 Kilometern sind keine energetische Lösung und hinterlassen eine spürbare ökologische Spurrille. Aber die gleichen sie aus. Autarkie ist ihnen wichtig. Sie besuchen Wildkräuter-, Angel- und Pilzkurse sowie Seminare für Erste Hilfe. Sie bekommen Antworten auf die Frage was bei Wunden hilft: Nähseide, Tacker oder Klammerpflaster? Den Rest müssten dann örtliche Fachkräfte erledigen.

Solarzellen auf dem Dach speisen Kühlschrank, Warmwasser, Akkus - auch die von Tims Tablet. Fernsehen gibt es weder in ihrem Haus in Fehlheim noch in „Big Ben“. Die Aussteigerserie „Goodbye Deutschland“ kennen sie, mehr auch nicht. „Germanys next Topmodel“? Ronja hat davon gehört, interessiert sie jedoch nicht. „Auf Achse“, ein Serienklassiker aus den Siebzigern, mit Manfred Krug als unerschrockenem Lkw-Fahrer - Ausschnitte sieht Eric zufällig auf „YouTube“. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Wichtige Dokumente liegen im Original bei Verwandten, Kopien in der Cloud, Wertsachen in den Geheimfächern von „Big Ben“. Bei einem Überfall sollen taktische Lampen mit besonders hellem Licht und massive Pfeffersprays helfen und vorher Menschenverstand und Weitsicht, um solche Situationen zu vermeiden. Eric: „Wir sitzen am Steuer.“ Informationen ziehen sie aus Chatgruppen und den Foren Weltreisender. Trotz Individualismus und Reiselust gilt: Sicherheit zuerst, auch wenn es Warten oder die Fahrt in einem Konvoi bedeutet. Zeit genug ist ja da.

Leben auf 20 Quadratmetern

Was ist Menschen wichtig, die sich in Deutschland ab- und ummelden, in den nächsten Jahren in einem Lkw auf 20 Quadratmetern Innenfläche wohnen, essen, in zwei Kojen im Heck und einem Dachzelt über der Fahrerkabine schlafen? Die Erinnerung an Freunde und Familie - digital natürlich, für analoge Lösungen wie Fotoalben fehlt in „Big Ben“ der Platz. Ronjas „Glücksschaaf“, ein kleines Stofftier, Christas Armband einer langjährigen Freundin, Tims Bild seiner Schulklasse passen rein. Aber sein Trampolin vermisst Tim schon jetzt. Und seine Freunde, vielleicht sogar den Mathe- und Sportunterricht an der Schillerschule in Auerbach. Hier wäre er im September in die siebte Klasse gekommen. Sein Schnitt im Zeugnis der Klasse 6 liegt bei 1,5.

Vokabeln lernen während der Fahrt

Den Unterricht übernimmt nun die Reisegruppe: Deutsch und Sprachen erledigt Christa; Ronja übt mit ihrem Bruder Mathe, Physik (ihre Leistungskurse) und Biologie. Ihr Schnitt im schulischen Teil des Fach-Abiturs am Goethe-Gymnasium in Bensheim liegt bei 1,8. Noch fehlt zum Abschluss das praktische Jahr.

Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit auf der Reise. Eine Elefantenstation in Südafrika zeigt Interesse. Dauert aber noch bis dahin, vielleicht in zwei Jahren. Werken und Lebensschule: Eric, der Organisator.

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Den Rest machen Claudia und Tutorials wie „Sofatutor“ - zu finden auf YouTube. Das Staatliche Schulamt befreit Tim vorerst für zwei Jahre vom regulären Unterricht. Vokabeln werden nun während der Fahrt gelernt, unterrichtet wird an einem Tag in der Woche, meist wenn Eric arbeitet. Seinen Job als Logistikberater kann er auch online erledigen. Maximal fünf Jahre wollen sie unterwegs sein, rechnen mit 50 000 Euro Kosten pro Jahr, inklusive Puffer für unerwartete Heimflüge.

In fünf Jahren sind Ronja und Tim 22 und 16 Jahre alt, was möchten sie mal werden? Ronja: „Reich an Erfahrung und glücklich.“ Und Tim? „Erfinder und Entdecker.“

Am Donnerstag startet die außergewöhnliche Reise der ungewöhnlichen Familie aus Fehlheim.

© Batzel

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